„Ich sehe jeden Tag neue Themen“

Das Interview: Landrat Richard Sigel zieht nach knapp der Hälfte seiner Amtszeit eine Bilanz über seine bisherige Arbeit

Richard Sigel wurde im Mai 2015 zum Landrat gewählt, die achtjährige Amtszeit ist bald zur Hälfte vorbei. Welche Bilanz zieht der Kreischef über sein bisheriges Wirken? Hat er erreicht, was er erreichen wollte? Wo gilt es noch, nachzulegen? Und welche neuen Herausforderungen stehen an? Im Interview gibt Richard Sigel Antworten.

„Ich sehe jeden Tag neue Themen“

„Ich bin sehr konsensorientiert – aus Überzeugung“: Landrat Richard Sigel. Foto: A. Becher

Von Armin Fechter

Wenn Sie auf Ihre bisherige Arbeit zurückblicken: Wie weit sind Sie, gemessen an Ihren Ansprüchen, gekommen?

Wenn ich mich an den Ansprüchen messe, die ich an mich persönlich stelle, dann hängt die Messlatte sehr hoch. Ich sehe jeden Tag neue Themen. Die Gesamtimmobilienkonzeption in Waiblingen ist dazugekommen, das Investitionsprogramm für sozialen Wohnraum, auch das Investitionsprogramm für die Kreisstraßen. Da gibt es, wenn man den persönlichen Anspruch nimmt, immer Luft nach oben. Wenn man sich nach drei oder vier Jahren im Amt zurücklehnen und sagen würde, es ist alles erledigt – ich glaube, dann wäre ich kein guter Landrat.

Und gemessen an den Herausforderungen zu Beginn Ihrer Amtszeit 2015?

Es waren im Grunde vier Themen, die ich bei meiner Wahl absehen konnte: Haushaltskonsolidierung, der Blick nach innen aufs Personal, die Flüchtlingskrise und die Rems-Murr-Kliniken. Wenn ich anschaue, was ich dazu versprochen habe, nämlich, dass wir die Dinge gut auf die Reihe bekommen, dann habe ich mehr erreicht, als ich es mir erwartet hätte. Da bin ich zufrieden.

Das Klinikum in Winnenden war eines der heißen Eisen, die Sie anpacken mussten. Einiges wurde erreicht. Befinden wir uns schon auf der Zielgeraden?

Mir war es wichtig, dass wir die Zielgerade klar definieren. Das haben wir gemacht: fünf bis zehn Millionen Defizit. Wenn wir dort sind, sind wir auf der Zielgeraden. Wir planen nächstes Jahr zirka 18 Millionen Defizit. Wir sind also nicht auf der Zielgeraden, aber auf Erfolgskurs. Ich sage ganz bewusst: Wir sind auf Erfolgskurs. Damit meine ich die Chefärzte und das ganze Personal in den Kliniken, die Geschäftsführung, aber auch die Kreispolitik. Wir haben mit unserer Medizinkonzeption viel erreicht, viele Altlasten aufgearbeitet und Baustellen zu Ende gebracht. Das Klinikdefizit haben wir nahezu halbiert. Von daher stimmt der Kurs.

Das eine ist der laufende Betrieb, das andere die Verschuldung. Wie geht es da voran?

Wir haben noch an die 200 Millionen Schulden, die das schöne, gute Klinikum gekostet hat. Aber: Man hat damals das Klinikum mit 540 Betten geplant und vom Ministerium genehmigen lassen, hat aber dazu noch 70 Betten komplett ohne Förderung gebaut. Und da sind wir wirklich auf der Zielgeraden: In der Abrechnung mit dem Ministerium zeichnet sich ab, die Betten werden nachgefördert. Damit haben wir einen ein- bis zweistelligen Millionenbetrag hereingeholt. Das sind die Bausteine, mit denen wir die Altlasten aus der Vergangenheit jetzt ganz gut aufgeräumt haben.

Die Probleme ums Winnender Klinikum haben vor Ihrem Amtsantritt die alten Gräben zwischen Backnang und Waiblingen neu aufgerissen. Wo stehen wir heute?

Ich hoffe, dass es mir gelungen ist, mit einer offenen, transparenten und manchmal vielleicht auch zurückhaltenden Art die Menschen mitzunehmen. Und wenn das dann hilft, dass wir die Gräben überwinden, dann freut mich das natürlich. Ich bin mir aber auch bewusst: Es wird immer Rivalität geben – zwischen Rems und Murr, vielleicht auch zwischen Murr und Schwäbischem Wald. Ein gewisser Wettbewerb belebt ja auch das Geschäft. Aber wir haben ein gutes Miteinander flusstälerübergreifend.

Gleich am Anfang Ihrer Amtszeit hat Sie das Thema Flüchtlingskrise getroffen. Inzwischen sind wir so weit, dass eine Gemeinschaftsunterkunft nach der anderen geschlossen wird. Welche Herausforderungen stellen sich für den Landkreis jetzt noch?

Das werde ich wahrscheinlich nie vergessen – wenn man so ganz frisch als Krisenmanager in ein Amt starten muss. Wir haben’s eigentlich ganz gut gelöst. Die Zahlen gehen zurück, es kommen im Prinzip keine neuen Flüchtlinge, wir sind im Moment bei 30 im Monat im Vergleich zu zeitweise 250 in der Woche. Für uns als Landkreis gibt es jetzt noch zwei Herausforderungen: zum einen Abbau der Überkapazitäten und zum anderen die Abrechnung mit dem Land. Dabei setze ich nach wie vor darauf, dass das Land zu seinen Zusagen steht und der Bund seine Versprechen einhält. Derzeit ist das der Fall, aber das braucht natürlich Zeit. Es sind aber gesellschaftliche Herausforderungen geblieben, denn die Menschen sind noch da. Wir haben gesehen, wie das UN-Flüchtlingsabkommen die Welt und Europa spaltet und, wie jüngst in Belgien, Regierungen entzweit. Da ist es ganz wichtig, dass die Politik Antworten gibt und der Staat Verlässlichkeit bietet. Das Thema Einwanderungsgesetz werden wir lösen müssen, und wir werden uns mit dem Thema Fluchtursachen beschäftigen müssen. Das werden wir nicht als Landkreis können. Da ist das Land, der Bund, Europa gefragt, Antworten auf die Verunsicherung bei den Menschen zu geben.

Besteht denn Klarheit darüber, wie viel finanziell am Landkreis hängen bleiben wird?

Wir können das abschließend jetzt noch nicht sagen. Es gibt noch ungeklärte Fragen, zum Beispiel was Fehlbeleger angeht. Da ist offen, wer die Kosten übernimmt. Das wird momentan zwischen den kommunalen Spitzenverbänden und dem Land verhandelt. Ich bin zuversichtlich, dass wir gute Ergebnisse bekommen. Wir werden aber am Ende auch als Landkreis mit einem Millionenbetrag zur Lösung der Flüchtlingskrise beigetragen haben.

Warum soll sich der Landkreis beziehungsweise die Kreisbau um günstigen Wohnraum kümmern? Ist das nicht Aufgabe der Städte und Gemeinden?

In der Tat, das ist eigentlich keine Kreisaufgabe. Es gibt auch im Land kaum einen Landkreis, der sich überhaupt im Wohnungsbau engagiert, geschweige denn so wie wir. Ich spreche oft von kommunaler Familie. Dazu gehört, dass man nicht in Beamtenmanier die Frage stellt: Wer ist zuständig? Wer muss es machen? Sondern dass man sich hilft. Beim Thema bezahlbarer Wohnraum macht es aus zwei Gründen Sinn: Das Thema birgt sozialen Sprengstoff, wir haben zu wenig bezahlbaren Wohnraum. Zweitens, wir haben im Landkreis eine Tradition mit der Kreisbaugruppe, die nächstes Jahr 70 Jahre besteht. Das ist die Institution, die das unterstützen kann, von Backnang bis Murrhardt, von Fellbach bis Plüderhausen. Wir sind überall vertreten und genießen viel Vertrauen. Und wir haben eine klare Strategie definiert: Wir bauen 500 neue bezahlbare Wohnungen und stellen dafür vom Kreis aus auch Kapital zur Verfügung. Ich sage aber auch mit Blick auf die vielen Aufgaben, die wir haben: Wir können nicht alle Probleme lösen. Aber ich glaube, wir leisten einen ganz substanziellen Beitrag.

Der Klimaschutz ist eine der größten Herausforderungen weltweit, im Grunde eine Schicksalsfrage für die Menschheit. Der Landkreis leistet einen Beitrag. Aber tut er genug?

Wir werden in der Zukunft sehen, ob es genug gewesen sein wird. Aber eins kann ich sagen: Wir tun eine Menge, wir tun es aus Überzeugung, wir leisten unseren Beitrag und versuchen, unserer Vorbildrolle gerecht zu werden. Wir haben gerade unser drittes Klimaschutzhandlungsprogramm aufgelegt, mit dem wir Millionen in die Hand nehmen, beispielsweise für energetische Maßnahmen. Wir investieren auch in den öffentlichen Personennahverkehr Millionenbeträge, wir investieren für unsere Abfallwirtschaft Millionen im Bereich der Deponievorsorge oder auch im Bereich der Umweltbildung. Aber genug wird es nur dann sein, wenn alle ihren Beitrag leisten. Deshalb haben wir bei unserem Programm viel Wert darauf gelegt, dass es die Bürgerinnen und Bürger anspricht und Bausteine enthält, die die Vereine und Einzelpersonen motivieren, zum Beispiel unsere Coffee-to-go-Mehrwegbecher – es sind ganz kleine, unterschiedliche Dinge.

Im Kreistag bewahren Sie, wie es scheint, immer die Ruhe, auch wenn es aufgeregt hin und her geht. Stehen Sie eher über den Dingen oder wollen Sie es allen recht machen?

Da zahlt es sich ein bisschen aus, wenn man in ein Amt so starten muss, wie ich es musste: voll mit Krisenmanagement von Tag eins an. Dann bringt einen manches nicht so schnell aus der Ruhe. Ich räume aber auch gerne ein: Ich bin sehr konsensorientiert – aus Überzeugung. Es lohnt sich, die Dinge gut aufzuarbeiten, so aufzuarbeiten, dass sie konsensfähig sind und mehrheitsfähig werden. Und ich habe auch immer gesagt: Der Kreistag ist die wichtigste Institution im Landkreis, nicht der Landrat. Sprich: Der Kreistag ist nicht die Bühne der Verwaltung, sondern primär das Forum der Politik. Mir war es wichtig, die politische Diskussion zurück in den Kreistag zu holen. Wir haben deshalb mehr als die Hälfte der Beiräte und Untergremien abgeschafft.

Wie würden Sie das Klima im Kreistag beschreiben? Geht es Ihnen manchmal auch so, wie es ein Kreisrat neulich gesagt hat: Man wisse nie, ob man die AfD übergehen oder ihr widersprechen soll?

Das Klima ist wirklich sehr gut. Das spiegelt sich vielleicht auch in dem wider, dass wir in vielen Punkten ein hohes Maß an Konsens erzielen, weil wir uns auf die Sachfragen konzentriert haben. Vielleicht tue ich mich als parteiloser Landrat besonders leicht, mit allen demokratisch gewählten Vertretern gleichermaßen fair umzugehen. Solange sich jemand sachorientiert einbringt, gibt es für mich keinen Grund, jemanden zu übergehen oder irgendetwas zu ignorieren. Widersprechen muss ich allerdings doch hin und wieder. Parteilos heißt ja nicht meinungslos. Das konnte man jetzt bei den vielen Haushaltsanträgen sehen. Da gibt es schon viele Punkte, wo wir klar Position beziehen.

Im Mai wird ein neuer Kreistag gewählt. Mit welchen Veränderungen rechnen Sie?

Die Zusammensetzung wird sich verändern, weil viele Kreisräte ausscheiden. Ich bin mir auch sicher, dass sich die Verschiebung in der Parteienlandschaft, die wir in den letzten Jahren erlebt haben, im Kreistag widerspiegeln wird und möglicherweise eine neue Fraktion dazukommt. Es haben sich auch die Freien Wähler vorgenommen, zweitstärkste Kraft zu werden. Ich bin selbst gespannt, wie sich die Bürgerinnen und Bürger entscheiden, habe aber auch ein großes Vertrauen in die Menschen, weil man gerade bei den Kommunalwahlen doch vor Augen hat, dass es um die Dinge geht, die einen vor Ort unmittelbar betreffen, und dass man sich da auch genau anschaut, welche Menschen man wählt und nicht nur welche Partei. Vielleicht sind deshalb die Verschiebungen oder Verwerfungen nicht so groß, wie es manchmal in der Bundespolitik ist, wo die Parteien eine größere Rolle spielen.

Welche Herausforderungen warten auf die künftigen Vertreter der Bürgerschaft?

Ich denke, das Thema Haushaltskonsolidierung – wir werden ja auch einen neuen Kreiskämmerer bekommen – wird uns weiter umtreiben. Beim Thema Kliniken sind wir noch nicht durch, im Bereich ÖPNV, Mobilität wird einiges zu tun sein, aber auch alles rund um Gesundheit und Pflege ist wichtig. Ich habe die Idee im Kopf, ob man nicht eine Stiftung aufsetzen könnte, die das Thema Gesundheit in den Fokus nimmt.

So eine Stiftung braucht ja Geld. Woher wollen Sie das nehmen?

Ja, das wird eine Herausforderung sein. Ich habe einige Ideen, wie sich so etwas aufsetzen lässt. Es ist auch mein Anspruch, immer wieder neue Herausforderungen zu suchen, und ich merke: Pflege, Gesundheit, das beschäftigt die Bürgerinnen und Bürger, darum müssen wir als Landkreis uns kümmern.

Wie würden Sie das Verhältnis zwischen Landrat und Bürgern beschreiben? Oder, anders gesagt: Was bestimmt das Bild, das sich die Bürger vom Landrat machen?

Natürlich ist der Landrat per se weiter weg von den Bürgerinnen und Bürgern als ein Bürgermeister oder Oberbürgermeister. Deshalb war es mir immer wichtig, vor Ort präsent zu sein, rauszugehen, bei den Menschen zu sein, viele Termine zu machen, mich einzubringen und auch dort, wo es notwendig ist, ehrenamtliches Engagement zu übernehmen – ich habe zum Beispiel jetzt die Präsidentschaft im DRK-Kreisverband ehrenamtlich übernommen – und mich in Netzwerke wie „Gemeinsam gegen den Herzinfarkt“ einzubringen. Ich halte mich für einen sehr bodenständigen Menschen. So bin ich aufgewachsen, und das möchte ich mir auch bewahren. Dazu gehört im besten Sinne auch die Bürgernähe – ansprechbar zu sein. Und es darf einen dann halt auch nicht stören, wenn man auf dem Fußballplatz, beim Bäcker oder auch nach der Veranstaltung von irgendjemanden angesprochen wird.

Landräte werden in Baden-Württemberg vom Kreistag gewählt. In den meisten anderen Bundesländern entscheidet das Volk direkt. Wäre das eine Option, der Sie sich selbst auch stellen würden?

Selbstverständlich. Ich mach die Aufgabe gerne. Ich würde mich auch der Direktwahl stellen. Allerdings, ich glaube, es hat einen guten Grund, dass jetzt auch die grün-schwarze Landesregierung das Thema nicht ganz oben auf der Prioritätenliste hat. Bei einer Wahl durch den Kreistag wird der Landrat von den Personen gewählt, die kommunalpolitisch verortet sind und Erfahrung mitbringen – zudem mit 100 Prozent Wahlbeteiligung. Wenn das gut funktioniert und die Vertrauensbasis stimmt, kann das ein gutes Fundament sein für einen erfolgreichen Kreis, für eine gute und vertrauensvolle und verlässliche Kreispolitik.

Welches Thema wird uns im nächsten Jahr im Rems-Murr-Kreis am meisten beschäftigen?

Es werden uns die Kommunalwahlen im Mai zusammen mit der Europawahl beschäftigen. Mobilität wird uns beschäftigen. Ihr Oberbürgermeister war ja in Sachen Feinstaub und Fahrverbote bei der Bundeskanzlerin, das wird uns nächstes Jahr auch besonders umtreiben. Wir haben 30000 Euro-4- und 30000 Euro-5-Dieselfahrzeuge. 2019 wird auch in anderer Hinsicht ein besonderes Jahr: Wir haben die Remstal-Gartenschau, in Winnenden die Heimattage Baden-Württemberg und – Backnang mit dabei – 40 Jahre Naturpark Schwäbisch-Fränkischer Wald, also drei Großereignisse, die abseits von Politik und Verwaltung für die Menschen Abwechslung und Freizeitangebote bringen und ein spannendes Jahr versprechen.