„Ich wurde vom Säufer zum Läufer“

Mutmacher-Geschichten: Carlos Ferreira hatte viele Jahre lang Alkoholprobleme. Erst als er am absoluten Tiefpunkt ankommt, gelingt es ihm, davon loszukommen. Neue Kraft gibt ihm der Sport.

„Ich wurde vom Säufer zum Läufer“

Im Plattenwald ist Carlos Ferreira oft zum Lauftraining. Als sportliches Ziel nennt er den Ultramarathon auf dem Rössleweg in Stuttgart. Foto: A. Becher

Von Lorena Greppo

BACKNANG. Carlos Ferreira nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er von seiner Vergangenheit erzählt: „Ich war ein richtiger Sauhund“, sagt er. Wer ihn heute kennenlernt, mag das kaum glauben, erlebt man den 54-Jährigen doch stets gut gelaunt, zufrieden, hilfsbereit. Doch das war nicht immer so. Viele Jahre lang hat Ferreira getrunken und der Alkohol hat ihn aggressiv gemacht. Kneipenschlägereien waren nichts Außergewöhnliches für ihn. „Ich habe mir Wein bestellt und mir schon gedacht: Schauen wir mal, wer es heute wissen will“, erzählt er. Dass er mit einem blauen Auge und aufgeschürften Händen herumlief, daran hatte sich sein Umfeld längst gewöhnt. Immer wieder hätten Freunde und Verwandte, allen voran seine Frau, versucht, auf ihn einzuwirken. „Aber ein Alki lässt sich doch von keinem was sagen. Ich musste erst so richtig auf die Schnauze fallen. Das war für mich die beste Therapie.“

Warum er überhaupt mit dem Trinken angefangen hat, weiß Carlos Ferreira selbst nicht. „Ich hatte keine schlechte Kindheit oder so.“ In der Jugend habe er Fußball gespielt, nach dem Training sei es dann immer in die Kneipe gegangen. „Von da ab ging es senkrecht bergab – das ging 32 Jahre so“, blickt der Backnanger zurück. Ferreira bewegt sich in zweifelhaften Kreisen, im Stuttgarter Milieu hat er mit „harten Jungs“ zu tun, wie er es nennt. Mit Hooligans des VfB Stuttgart fährt er öfters zum Konkurrenten nach Karlsruhe – man ist auf eine Prügelei aus, was sonst? Bei seiner Arbeit auf dem Bau stört es niemanden, dass er schon morgens um halb 9 die erste Weinschorle trinkt – „solange ich meine Arbeit gut gemacht habe und das habe ich immer hinbekommen“. Drei Flaschen Wein am Tag sind für ihn normal und dabei bleibt es nicht. „Der Konsum hat sich immer gesteigert. Wenn man mir eine Flasche hingestellt hat, dann hab ich die leer gemacht und war in Gedanken schon bei der nächsten.“

Seine Ehefrau hält es irgendwann nicht mehr mit ihm aus.

Zwischendurch arbeitet er als Türsteher. In dieser Phase ist Ferreira Stammgast auf dem Polizeirevier und steht mehrere Male wegen Körperverletzung vor Gericht. „Verurteilt wurde ich nie, als Türsteher beruft man sich darauf, dass man das Hausrecht durchsetzt.“ Seine Frau hält es irgendwann nicht mehr mit ihm aus. Sie verlässt die gemeinsame Wohnung und kommt einige Tage später mit der Polizei wieder, um ihre Sachen zu packen. Er habe sie nie geschlagen, beteuert der 54-Jährige, ihr wohl aber gedroht. Dass sie Angst vor ihm hatte, kann er ihr heute nicht mehr verdenken.

Zu jenem Zeitpunkt jedoch ist Carlos Ferreira außer sich. Seinen Ehering habe er in die Murr geworfen, erzählt er, und sei in eine WG gezogen. Dort habe er zwar versucht, seinen Alkoholkonsum zu reduzieren, das sei ihm aber nicht gelungen. Es kommt, wie es kommen musste: Nach zwei Tagen des Dauersaufens landet der Backnanger im Krankenhaus, muss zwischendurch sogar ins künstliche Koma versetzt werden. Er habe schon eine beginnende Leberzirrhose gehabt, schildert er. Seine Mutter sei aus Portugal angereist, „sie hat Rotz und Wasser geheult“. Carlos Ferreira ist am Boden angekommen.

Die Ärztin, seine Mutter, seine Schwester – sie alle drängen ihn, doch endlich eine Entziehungskur zu machen. „Davon wollte ich nix wissen.“ Im Gegenteil: Bei der Entlassung denkt er bereits an die Flasche Wein in seinem Kühlschrank. „Wenn ich zu Hause bin, mache ich mir eine Monsterschorle Weißherbst“, so sein Plan. Als er gerade dabei ist, sich einzuschenken, kommt Carlos Ferreira ins Grübeln. Durch die Zeit im Krankenhaus hat er seit zehn Tagen nichts mehr getrunken, sollte er wirklich wieder anfangen? Er entscheidet sich, den Wein nicht zu trinken, schüttet ihn aber auch nicht weg. Am nächsten Tag ist er erneut kurz davor, zur Flasche zu greifen. „Das ging fünf, sechs Tage so.“ Erst dann bringt er den Willen dazu auf, all seine alkoholischen Vorräte wegzuschütten. „Und seitdem habe ich keinen Tropfen mehr angerührt“, sagt er nicht ohne Stolz. Ein Tattoo auf seinem Unterarm mit dem Datum des 8. August 2016 und der Aufschrift „Nunca mais“ – nie wieder – erinnert ihn täglich daran.

An seinem Körper ist die Trinkerei aber nicht spurlos vorübergegangen. 92 Kilogramm wiegt der 1,67 Meter große Mann zu diesem Zeitpunkt und hat diverse gesundheitliche Probleme. „Dann habe ich angefangen, mit Vollgas Sport zu machen“, erzählt er. Das sei die beste Entscheidung gewesen, die er hätte treffen können, urteilt er im Rückblick. Nicht nur für seine körperliche Gesundheit. Denn über den Sport habe er Leute kennengelernt, die mit der Alkoholthematik nichts zu tun haben, sie haben einen positiven Einfluss auf ihn. „Ich habe das Leben wieder schmecken können“, sagt Ferreira mit seinem typischen, ansteckenden Lächeln auf den Lippen. Er findet seelischen Frieden im Buddhismus, auch aus dem Wunsch heraus, gewaltfrei leben zu können.

2019 absolviert er in Porto seinen ersten Marathon.

Der heute 54-Jährige nimmt 22 Kilogramm ab, macht in einem Tabatakurs mit. Dort lernt er Alexandra Roth kennen, die ihn in die Laufgruppe „Runsquad Backnang“ mitnimmt und ihm die Teilnahme am Backnanger Silvesterlauf ans Herz legt. Den absolviert er 2018 und das Erlebte weckt seinen Ehrgeiz. Kurz darauf läuft Ferreira seinen ersten Halbmarathon, macht beim Backnanger Citytriathlon mit und im Training mit seinem Laufkumpel Ralf Zanner versucht er sich später an noch längeren Distanzen. Den ersten offiziellen Marathon bestreitet der Backnanger im November 2019 in Porto, trotz einer Nierenbeckenentzündung. Als er davon erzählt, bekommt er eine Gänsehaut. „Ich war so stolz auf mich“, beschreibt er. Zanner, der deutlich schneller unterwegs war, habe kurz vor dem Ende der Strecke auf ihn gewartet, sodass die beiden Männer gemeinsam über die Ziellinie laufen konnten. „Ich wurde vom Säufer zum Läufer“, sagt er lachend, für die Unterstützung auf seinem Weg sei er zutiefst dankbar.

Beruflich hat er im Dörfle in Aspach einen neuen Abschnitt begonnen. Dass er in der Gastronomie täglich mit Alkohol zu tun hat, mache ihm nun nichts mehr aus. Die Getränke haben ihren Reiz verloren, schildert Ferreira. Wichtig sei ihm aber gewesen, dass seine Arbeitgeber über seine Vergangenheit Bescheid wissen. Von ihnen habe er viel Rückhalt erfahren. Und auch im Privatleben geht es für Ferreira wieder bergauf. Nachdem er, im Versuch sich zu versöhnen, seiner Ex-Frau Briefe geschrieben, aber keine Antwort erhalten hat, trifft er sie in der Eisdiele wieder. Die beiden sprechen sich aus. Ferreira bittet sie um Entschuldigung und gesteht ein: „Ich hab dir Schlimmes angetan.“ Er sagt ihr aber auch: „Den alten Carlos gibt es nicht mehr.“ Die beiden finden wieder zueinander. „Wir gehen auf Augenhöhe miteinander um“, hebt der 54-Jährige hervor. Die beiden planen bereits die gemeinsame Zukunft, die Rente wollen sie auf Madeira verbringen. Ansonsten ist sein Ziel bescheiden: „Glücklich bleiben und Gutes tun“, sagt er. Und den Stuttgarter Rössleweg, also einen Ultramarathon, den will er auch noch laufen.

In der Serie Mutmacher-Geschichten berichten wir über Menschen, die ihr Glück gefunden haben, die schwierige Situationen gemeistert und ihre Träume verwirklicht haben. Damit setzen wir einen Gegenpol zu all den negativen Nachrichten, die jeden Tag in der Zeitung stehen.