„In der Praxis gibt es noch einiges zu tun“

Am 8. März ist Internationaler Frauentag – Frauen verdienen im Rems-Murr-Kreis immer noch weniger als Männer

„Frauen und Männer sind doch mittlerweile total gleichberechtigt“ – diese Aussage hört man im Jahr 2020 nicht selten. Und meistens wird sie von Männern getroffen. Doch sieht es mit der Gleichberechtigung – vor allem beim Thema Arbeit – wirklich so gut aus?

„In der Praxis gibt es noch einiges zu tun“

Von Silke Latzel

BACKNANG. Theoretisch sind Männer und Frauen gleichgestellt und -berechtigt. Doch noch immer verdienen Frauen oftmals für dieselbe Arbeit weniger als Männer und werden in diesem Bereich vor allem dann benachteiligt, wenn es dabei dann auch noch um die Themen Kinder, Rollenverteilung und Rentenansprüche geht (siehe Infokasten).

Eine sehr unangenehme Erfahrung bei diesem Thema hat Sonja F. (Name ist der Redaktion bekannt) gemacht. Sie möchte anonym bleiben, da sich die von ihr geschilderte Situation bei ihrem mittlerweile aktuellen Arbeitgeber ereignete. F., 32 Jahre alt und verheiratet, bewirbt sich um eine neue Stelle bei einem Betrieb im Rems-Murr-Kreis. Die Stelle ist befristet ausgeschrieben, eine Elternzeitvertretung. Von der Stelle weiß sie, weil eine ihrer Freundinnen sie innehat und schwanger ist. Beim Vorstellungsgespräch wird sie vom potenziellen Arbeitgeber am Ende des Gesprächs gefragt: „So Frau F., jetzt die für uns wichtigste Frage: Wie sieht es denn mit Ihrer Familienplanung aus? Denn so etwas wie mit Frau Weber (Name geändert) wollen wir nicht noch einmal erleben.“

F. erzählt, dass sie im ersten Moment erst einmal sprachlos war: „Ich war darauf wirklich nicht gefasst, weil die Frage juristisch gesehen ja gar nicht zulässig ist und ich nicht gedacht hätte, dass sie so offen und direkt gestellt wird. Ich habe mich sehr unwohl gefühlt, weil ich nicht einschätzen konnte, ob meine Antwort jetzt vielleicht darüber entscheidet, ob ich den Job bekomme oder nicht.“

F. ist nicht die einzige Frau, die einer solchen Situation schon einmal ausgesetzt war. Die Mehrzahl ihrer Freundinnen im selben Alter haben schon Fragen nach dem Kinderwunsch bei Vorstellungsgesprächen beantworten müssen, so die 32-Jährige. „Oder sie wurden trotz ausreichender Qualifikation gar nicht erst zu Vorstellungsgesprächen eingeladen“, erzählt sie. „Es ist natürlich Spekulation, dass das aufgrund des Geschlechts passiert ist, aber in meinem Freundes- und Bekanntenkreis gibt es keinen Mann im selben Alter, der dieselben Probleme bei der Jobsuche hatte oder hat.“

Eine, die sich beruflich mit dem Thema Gleichstellung befasst, ist Julia Gonser. Die Gleichstellungsbeauftragte des Rems-Murr-Kreises ist Ansprechpartnerin der Kreisverwaltung in allen Fragen der Gleichstellung. Wieso im Jahr 2020 überhaupt eine Gleichstellungsbeauftragte benötigt wird, kann sie ganz einfach erklären: „Runtergebrochen: Um sensibel für das Thema zu machen, damit Missstände nicht selbstverständlich bleiben. Auf gendergerechte Sprache zu achten, mag beispielsweise simpel klingen, aber Gleichstellung fängt bei der Sprache an. Weiter geht es mit Verbesserungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder Veranstaltungen für Mitarbeitende, Bürgerinnen und Bürger. Mit einem gesetzlichen Auftrag im Rücken – das Chancengleichheitsgesetz wurde 2016 erneuert – fällt manches leichter.“

„Ich habe gesagt, dass ich keine Kinder möchte“

Gonser ist außerdem Gesprächspartnerin für die Städte und Gemeinden des Landkreises in Fragen der Gleichstellungspolitik. Die gestellten Fragen drehen sich meistens um Zuständigkeiten: „Ich nehme dann oft die Rolle einer Vermittlerin ein und bringe Anfragen und Menschen, die die Fragen beantworten können, zusammen. Gerne sind wir im Landratsamt auch Ideengeber für die Städten und Gemeinden, bei uns gibt es beispielsweise einen Kinderkoffer für Eltern, die ihre (gesunden) Kinder bei Betreuungsausfall mit zur Arbeit bringen können.“ Ihre persönliche Meinung zum Thema Gleichberechtigung von Frauen und Männern: „Sind Frauen heutzutage gleichberechtigt? Theoretisch ja laut Gesetz, zumindest in Deutschland. Wenn wir 100 Jahre zurückblicken, haben wir schon sehr viel erreicht. In der Praxis gibt es allerdings noch einiges zu tun in allen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Bereichen – und das eben nicht nur bei Entlohnung und der Besetzung von Führungspositionen. Daher: Dranbleiben.“

Sonja F. hat auf die Frage nach ihrer Familienplanung übrigens geantwortet – obwohl sie es nicht hätte machen müssen. „Ich habe gesagt, dass ich keine Kinder möchte. Was nicht stimmt. Aber auf unzulässige Fragen muss man als Bewerber auch nicht die Wahrheit sagen.“

Info

Sie arbeiten genauso lang, ziehen aber beim Verdienst den Kürzeren: Frauen, die im Rems-Murr-Kreis eine Vollzeitstelle haben, verdienen rund 700 Euro weniger im Monat als ihre männlichen Kollegen. Darauf hat die Gewerkschaft Nahrung/ Genuss/Gaststätten (NGG) hingewiesen.

Die NGG beruft sich dabei auf aktuelle Zahlen der Bundesagentur für Arbeit. Danach liegt das durchschnittliche Vollzeiteinkommen von Frauen im Rems-Murr-Kreis aktuell bei 3082 Euro im Monat – Männer mit der gleichen Arbeitszeit kommen auf 3783 Euro. Das macht einen Unterschied von 19 Prozent.

„Es kann nicht sein, dass Frauen auf dem Arbeitsmarkt noch immer so stark benachteiligt sind. Viele Unternehmen in der Region nutzen das Lohngefälle aus, obwohl sie mehr zahlen müssten“, kritisiert Hartmut Zacher von der NGG Region Stuttgart. Besonders problematisch sei die Situation in frauendominierten Berufen – etwa im Service einer Gaststätte oder im Verkauf einer Bäckerei. Wenn hier nicht nach Tarif gezahlt werde, träfen niedrige Löhne häufig auf Teilzeitjobs und befristete Stellen.

„Hinzu kommt, dass noch immer zu viele Frauen zu Hause bleiben, nicht zuletzt auch, weil das Ehegatten-Splitting bei der Steuer die Rollenteilung verstärkt“, so Zacher.

Die NGG fordert die Unternehmen auf, die unterschiedliche Bezahlung von Frauen und Männern in vergleichbaren Positionen zu beenden. Auch die Politik sei gefordert. „Statt immer neuer Lippenbekenntnisse zum Frauentag brauchen wir einen gesetzlichen Anspruch auf gleiches Geld für gleichwertige Arbeit, der Wirkung zeigt und in den Betrieben zwingend umgesetzt werden muss. Alles andere ist im Jahr 2020 von vorgestern“, so Zacher.