Jeden Gesunden kann es treffen

Bernhard K. und Ulrike T. leiden unter psychischen Erkrankungen. Anlässlich des Welttags der seelischen Gesundheit sprechen die Klienten der Sozialpsychiatrischen Hilfen über ihre Situation und ihre Wünsche für ein gutes Miteinander in der Gesellschaft.

Jeden Gesunden kann es treffen

Alltägliche Situationen stellen bei psychischen Erkrankungen oftmals unüberwindbare Hürden dar. Symbolfoto: Adobe Stock/Kittiphan

Von Armin Fechter

BACKNANG. Der 46-jährige Bernhard K. (Name geändert) versucht nach einer tiefen Krise wieder im Leben Fuß zu fassen. Drei Suizidversuche liegen hinter ihm, eine schwere Störung hat ihn vor Jahren getroffen und aus der Bahn geworfen.

Ursprünglich studierte Bernhard K. in München Medizin. Mit Nebenjobs kam er finanziell über die Runden. Gerade hatte er seine Doktorarbeit in Angriff genommen, als er in eine Depression stürzte – das psychische Leiden, das ihn bis heute nicht loslassen will. Was der Auslöser war? „Es sind viele Dinge zusammengekommen“, erklärt er – der Verlust der Lebensgefährtin war nur ein Faktor dabei.

Bernhard K. fand sich in Berlin wieder, ohne festen Wohnsitz und permanent zugedröhnt, das Bewusstsein mit Alkohol, Haschisch und Kokain weggeknipst. Irgendwann landete er durch zufällige Bekanntschaften in Backnang, wo er in eine Wohngemeinschaft einzog und den Versuch unternahm, ins normale Leben zurückzufinden. Als die Kündigung des Zimmers im Raum stand und er fürchtete, wieder vor dem Nichts zu stehen, wandte er sich an den Sozialpsychiatrischen Dienst. Es war die letzte Chance, die er sich und seinem Leben noch geben wollte.

„Ich versuche, Dinge zu bewältigen, die für andere selbstverständlich sind“, beschreibt Bernhard K. seine Lage. Jeder Tag ist anders. „Ich schaffe es manchmal nicht, das Bett zu verlassen.“ Es ist, als würde er einen Overall tragen, in den bleischwere Gewichte eingenäht sind. Das Gesichtsfeld ist eingeschränkt wie bei einem Tunnelblick. „Die Welt verliert ihre Farbe.“ Regelmäßig essen, regelmäßig Sport treiben – die Ziele sind gesteckt, aber oft braucht er einen langen Anlauf, manchmal liegt die Hürde zu hoch. Bernhard K. lebt allein, alle Sozialkontakte hat er abgebrochen, und bezieht Hartz IV. Seit Kurzem gibt er einem Schüler Nachhilfeunterricht. „Ich versuche, Inhalte zu finden“, schildert er die anstrengende Sinnsuche. Die Coronakrise habe ihn in gewisser Weise sogar entlastet, denn die wiederkehrenden psychiatrischen Begutachtungen zur Rechtfertigung von Leistungsbezügen, die er jedesmal als „nicht besonders einfühlsam“ und erniedrigend empfunden hatte, wurden in diesem Jahr ausgesetzt.

Im Gespräch können alle Probleme frei heraus geschildert werden.

Einmal in der Woche kommt Sozialpädagogin Elfriede Fink vom Ambulant Betreuten Wohnen vorbei. Sie regelt mit ihm zusammen die Dinge, die im Hilfeplan festgelegt sind. Sie nimmt sich beispielsweise die schriftliche Korrespondenz mit den Ämtern vor, denn es bereitet ihm extremen Stress, solche Briefe überhaupt zu öffnen. Im Gespräch – aufgrund von Corona mitunter auch bei Waldspaziergängen – können alle Probleme frei heraus geschildert werden. Dank der Hilfe ist es Bernhard K. inzwischen beispielsweise gelungen, nach 15 Jahren wieder Kontakt zu seinem Bruder aufzunehmen.

Die Leidensgeschichte der 46-jährigen Ulrike T. geht bis in ihr 20. Lebensjahr zurück. Seitdem kämpft sie mit einer Zwangserkrankung, mit Ängsten, die in Schüben auftreten und die ihr drei Klinikaufenthalte eingetragen haben. Dennoch konnte sie ihr Studium der Sozialen Arbeit durchziehen und lange Zeit auch in ihrem Beruf arbeiten. Doch als vor einem Jahr ein starker Schub kam, war daran nicht mehr zu denken, sie suchte Unterstützung beim Sozialpsychiatrischen Dienst, zu dem sie während einer früheren Krise schon einmal Kontakt hatte. Ebenso wie Bernhard K. erhält auch Ulrike T. inzwischen intensivere Unterstützung im Ambulant Betreuten Wohnen.

Immer wieder kommen diese unerwünschten Gedanken, die ihr Angst machen: Angst vor einer Vergiftung durch Chemikalien, Blei, Kunststoffabrieb oder Bakterien. Um den damit verbundenen Ekel und die Anspannung abzubauen, ergeht sich Ulrike T. in Zwangshandlungen. Sie fängt an, alles akribisch zu putzen. Als sie sich nach einem Umzug neu einrichten musste, sah sie überall in den Möbeln Gift. Sie kann dann auch nicht kochen und essen – ein Zustand, der sie an die Grenzen des Überlebens bringt.

Dabei treten die Ängste schwankend auf: Stress macht alles schlimmer. In solchen schlechten Phasen verändert sich der psychische Zustand zu einer auch körperlich anstrengenden Spirale. „Das lässt Sie nicht los, auch im Traum nicht“, beschreibt Ulrike T. ihre Nöte. Herzrasen einerseits und Erschöpfung andererseits stellen sich ein. Als große Hilfe empfindet sie den Beistand durch die ambulante Betreuung: Tobias Trumpp, ein Kollege von Elfriede Fink, leistet nicht nur psychische Unterstützung, er packt auch ganz praktisch beim Aufbau eines Möbelstücks mit an. Gegenüber einer solchen Vertrauensperson kann Ulrike T. offen ansprechen, was sie beschäftigt.

Das geht sonst freilich nicht. Schnell werden Menschen, zumal solche, die etwas haben, „was nicht normal ist“, wie Ulrike T. sagt, in eine Schublade gesteckt, an den gesellschaftlichen Rand geschoben und abgewertet. Oder es passiert, was Bernhard K. schildert: Er schämt sich für seine Krankheit und fühlt sich schuldig, wenn ihm etwa der Hausarzt erklärt: „Sie sehen gar nicht depressiv aus.“ Denn das würde ja bedeuten, er würde nur vorgeben, depressiv zu sein. Und in seiner Scham wertet er sich selbst ab und setzt eine Spirale in Gang, die ihn noch weiter nach unten zieht. Schuldgefühle, etwa dafür, dass eine Beziehung in die Brüche gegangen ist, verstärken die Zwangssituation, findet auch Ulrike T. und beschreibt als „das Verletzendste“ den Rückzug anderer – die Reaktion: „Ich verstehe das nicht“. Denn für sie bedeutet das unausgesprochen: Du bist es mir nicht wert, mir die Mühe zu machen.

Solche Haltungen münden, wie Bernhard K. beklagt, rasch in dem vorurteilhaften „Der ist verrückt, von dem muss man sich fernhalten“. Ulrike T. bekräftigt kurz und deutlich: „Der Psycho.“ Statt Mitgefühl bekommt man – auch das eine Reaktion der Umgebung, die Bernhard K. erlebt hat – gleich Lösungen präsentiert, und wenn man diese nicht aufgreift, aufgreifen kann, folgt das Urteil auf dem Fuße: „Er will ja gar nicht gesund werden.“

„Die Gesellschaft sieht nicht, dass es Erkrankungen sind“, bedauert Ulrike T. das mangelnde Verständnis für psychische Leiden. Es herrsche eine große Diskrepanz: Sehr viele Menschen haben eine solche Krankheit, das wird aber tabuisiert. Und das, wo doch der Umgang mit ihrer Krankheit die Betroffenen Tag für Tag immens viel Kraft kostet, wie Ulrike T. sagt. Als Gesamtpersönlichkeit wahrgenommen zu werden, das wünscht sich Ulrike T. „Ich bin schließlich nicht nur meine Erkrankung.“

Ulrike T. möchte in absehbarer Zeit wieder arbeiten gehen, wieder ganz normal mit Partner und Freunden leben und ihren Beruf ausüben – „aber ob es gelingt, weiß ich nicht“. Auch Bernhard K. hat das Ziel, wieder Fuß zu fassen in der Gesellschaft, seinen Beitrag leisten zu können und Anerkennung zu erfahren. Zugleich ist er sich bewusst: „Die Krankheit wird mich ein Leben lang begleiten, aber ich will einen Umgang mit ihr finden.“ Der Tag der seelischen Gesundheit könne „uns Erkrankten eine Stimme geben, um gehört zu werden“. Ulrike T. ergänzt: Der Tag könne aufklären darüber, „es gibt solche Sachen“, man müsse aber keine Berührungsängste haben. Denn: „Jeden Gesunden kann es morgen auch aus den Socken hauen.“

Welttag der seelischen Gesundheit

Der 10. Oktober ist der Welttag der seelischen Gesundheit. Er wurde 1992 von der World Federation for Mental Health (WFMH) initiiert und in Deutschland 1994 eingeführt. Hintergrund ist, dass psychische Störungen weit verbreitet sind.

Nach einer Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) leidet weltweit jeder vierte Arztbesucher daran. Studien sprechen von etwa acht Millionen Deutschen mit behandlungsbedürftigen psychischen Störungen. Betroffene leiden nicht nur unter ihrer Erkrankung, sondern auch unter der Stigmatisierung, der sie ausgesetzt sind. Ziel des Welttags ist es, mehr Akzeptanz gegenüber psychischen Erkrankungen zu schaffen.

Hilfe bietet der Kreisdiakonieverband mit seinen Sozialpsychiatrischen Hilfen. Sie umfassen mehrere Teilbereiche, darunter insbesondere den Sozialpsychiatrischen Dienst und das Ambulant Betreute Wohnen.

Wer kann dort Unterstützung finden? Die Sozialpsychiatrischen Hilfen beschreiben dies so: „Wir sind für Sie da, wenn Sie seit längerer Zeit an einer psychischen Erkrankung leiden und im alltäglichen Leben nur schwer zurechtkommen; wenn Sie aus stationärer psychiatrischer Behandlung entlassen wurden und jemanden brauchen, der Sie darin unterstützt, Ihre Fähigkeiten zu entwickeln; wenn Sie das selbstständige Wohnen in der eigenen Wohnung überfordert und Sie entsprechende Hilfe benötigen; wenn Sie als Angehörige Informationen und Beratung wünschen. Gemeinsam mit Ihnen suchen wir nach Wegen und Möglichkeiten, den Alltag nach Ihren Wünschen und Zielen selbstständig zu gestalten. Unser Angebot gilt Menschen zwischen 18 und 65 Jahren.“

In Backnang sind die Sozialpsychiatrischen Hilfen in der Oberen Bahnhofstraße 16 zu finden. Telefonische Anmeldung unter 07191/9145610 ist erforderlich.