Unionsfraktionschef Jens Spahn nennt den Angriff Israels auf den Iran einen „Befreiungsschlag“ – und sagt im Interview, was er von Israel lernen möchte.
Er ist ein Freund klarer Ansagen: Unions-Fraktionschef Jens Spahn.
Von Tobias Peter und Ellen Hasenkamp
In der Diskussion über Maskenkäufe in der Pandemie gibt es zurzeit viel Kritik an Jens Spahn. Im Interview räumt der Unionsfraktionschef Fehler ein, geht aber auch in die Offensive. Und er hat deutliche Forderungen in der Außen- und Verteidigungspolitik, bei den Themen Haushalt und Bürgergeld sowie in Sachen Krankenkassenbeiträge.
Herr Spahn, die Lage in Nahost hält die Welt in Atem. Kanzler Friedrich Merz hat nun davon gesprochen, dass Israel mit den Angriffen auf Iran die „Drecksarbeit“ auch für uns erledige. Ist das die richtige Beschreibung?
Er hat ausgesprochen, wie es ist. Man kann nicht gerade sagen, dass die deeskalierende, eher beschwichtigende Iran-Politik der letzten Jahre erfolgreich war. Es wurde stillschweigend hingenommen, dass der Iran die Region immer weiter destabilisiert. Israel hat in einem Befreiungsschlag auf den Terror der Hamas, der Hisbollah und nun des Iran reagiert. Aber das ist mit viel Leid auch für Unschuldige verbunden.
Kommt dieses Leid in der Wortwahl des Kanzlers nicht zu kurz?
Wir Deutschen haben uns lange mit dem Verweis auf unsere historische Situation und das Ideal des Völkerrechts rausgehalten. Spätestens mit dem russischen Überfall auf die Ukraine aber spüren wir: Fragen von Krieg und Frieden betreffen auch uns direkt. Wir müssen lernen, die Widersprüchlichkeiten zwischen unserem Ideal einer friedlichen Welt und der Realität brutaler Konflikte auszuhalten.
Würden Sie eine direkte Beteiligung der USA an den Angriffen auf iranische Atomanlagen befürworten?
Jedenfalls geht es jetzt nicht mehr um Kompromiss, um zivile Nutzung, um Anreichungsprozente. Das Atomprogramm muss beendet werden. Und es wäre ein Segen für die Menschen in der gesamten Region, wenn das Mullah-Regime selbst fallen würde. Im Iran werden Frauen unterdrückt, Schwule ermordet, Andersdenkende eingesperrt. Die Iraner aufzufordern, ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen, und gleichzeitig Teheran zu verlassen, ist dabei nur eine der Widersprüchlichkeiten unseres transatlantischen Partners.
Kann Deutschland überhaupt etwas tun?
Militärisch haben wir wenig anzubieten. Aber wir können durch Führung in Europa zusammen mit anderen Partnern die Diplomatie ins Spiel bringen. So wie es unser Außenminister gerade in Genf getan hat.
Was sind die Lehren für uns?
Eine lautet: Wir müssen unseren eigenen Luftraum wirksam verteidigen können. Wie dramatisch wichtig das ist, zeigt nicht nur Israel. Das zeigen auch die Geschehnisse in der Ukraine jeden Tag. Wir haben eine Schutzpflicht für unsere Bevölkerung. Einen Iron Dome über Europa zu spannen, dafür muss sich die Bundesregierung jetzt mit voller Kraft einsetzen – und mit vollem Tempo. Israel kann tun, was es tut, weil es in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen.
Was erwarten Sie konkret?
Es geht darum, das Projekt eines Iron Dome als eine europäische Säule des transatlantischen Bündnisses voranzutreiben. Europa muss sich vor anfliegenden Raketen, Drohnen und anderem Fluggerät schützen können. Dazu gehört übrigens auch der Weltraum.
Genau das hat der frühere Kanzler Olaf Scholz mit der europäischen Initiative „Essi“ in Gang gesetzt.
Die Ansätze müssen jetzt konsequent weitergeführt werden, einschließlich der nötigen finanziellen Mittel. Da sollte Deutschland eine Führungsverantwortung innerhalb Europas übernehmen.
Kommen wir zur Innenpolitik, nächste Woche steht der Haushalt an. Wo wird gespart?
Unter anderem beim Bund selbst: Zehn Prozent der Stellen werden in den nächsten Jahren abgebaut. Wir werden bei der Entwicklungshilfe kürzen müssen und beim Bürgergeld. Wir geben derzeit über 50 Milliarden Euro für das Bürgergeld aus. Das ist Wahnsinn. Und das muss sich ändern.
Viele Experten bezweifeln, dass sich da so schnell so viel sparen lässt.
Die neue Grundsicherung kommt noch dieses Jahr. Wir haben in den Koalitionsverhandlungen vereinbart, mindestens drei Milliarden im Jahr beim Bürgergeld sparen zu wollen. Das muss jetzt auch geschehen.
Aber wie?
Wir müssen den Anreiz für Arbeit erhöhen. In den USA, in anderen europäischen Ländern arbeiten beispielsweise viel mehr Menschen in der Dienstleistung, in der Gastronomie, im Service. Woran liegt unser unterdurchschnittlicher Personaleinsatz? Das hat auch zu tun mit der Frage, ob Arbeit sich im Vergleich zum Bürgergeld lohnt.
Den Regelsatz beim Bürgergeld werden Sie nicht senken können. Also Mindestlohn rauf?
In unserer Lage – drittes Rezessionsjahr in Folge – werden Arbeitgeber und Gewerkschaften in der Mindestlohn-Kommission klug abwägen, was geht. Der Kuchen ist kleiner geworden. Die richtige Reihenfolge ist: Erst muss die Wirtschaft wieder wachsen, dann gibt es auch mehr zu verteilen.
Also keinesfalls die 15 Euro Mindestlohn, die die SPD im Jahr 2026 will?
Das wird die Kommission entscheiden. Und deren Ergebnis nehmen wir an. Es gibt sehr gute Gründe dafür, dass nicht die Politik den Mindestlohn festlegt.
Was alle spüren, ist die Höhe der Sozialbeiträge. Wann kommen wir wieder zurück zu unter 40 Prozent?
In der aktuellen wirtschaftlichen Stagnation dürfen die Beiträge zur Pflege- und Krankenversicherung zum 1. Januar nicht steigen. Punkt. Da muss der Bund notfalls mit Steuermitteln einspringen. Aber ich erwarte auch, dass die Ausgaben mal ein, zwei Jahre lang nicht stärker wachsen als die Einnahmen.
Also Leistungskürzungen?
Also weniger mehr. Die Steigerung der Vergütungen im Gesundheitswesen sollte nicht höher sein als die der Einnahmen. Das kann man gesetzlich regeln. Perspektivisch müssen die Sozialbeiträge sinken.
Brauchen wir ein späteres Renteneintrittsalter?
Wenn die Lebenserwartung steigt – und das tut sie –, müssen auch die Lebensarbeitszeit und das gesetzliche Renteneintrittsalter angepasst werden. Diese Frage stellt sich allerdings bis 2030 nicht. Denn aktuell befinden wir uns noch auf dem schrittweisen Weg zur Rente bis 67. Aber dauerhaft erledigt ist sie damit natürlich nicht.
Thema Migration. Das Verwaltungsgericht Berlin hat Fälle von Zurückweisungen für rechtswidrig erklärt. Muss das Innenministerium seine Politik überdenken?
Der Politikwechsel mit Zurückweisungen schon am ersten Tag war richtig und wichtig. Er ist das, was Deutschland und Europa brauchen. Wir mussten das Signal senden: Deutschland nimmt nicht mehr einfach alle Menschen auf, die andere EU-Staaten durchwinken. In Sachen Zurückweisungen gibt es nun eine Einzelfallentscheidung eines Verwaltungsgerichts. Die wird im Rechtsstaat auch umgesetzt. An unserem Kurs halten wir fest.
Was, wenn es nun zu vielen weiteren solcher Gerichtsentscheidungen kommt?
Wollen wir wirklich noch länger eine Situation hinnehmen, in der jeder nach Deutschland kommen kann, ab dem ersten Tag Sozialleistungen erhält und einfach hierbleibt? Das hat bei der großen Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger keine Akzeptanz.
Das beantwortet nicht die Frage, ob die Bundesregierung Europarecht akzeptiert – oder ob sie sagt: Wenn es uns nicht gefällt, halten wir uns einfach nicht daran.
Wir sind der festen Überzeugung, dass wir das Europarecht einhalten. Wenn sich aber am Ende herausstellen sollte, dass der Europäische Gerichtshof das anders sieht, dürfen wir auch nicht den Kopf in den Sand stecken und sagen: Es bleibt alles, wie es ist. Dann müssen wir das Europarecht ändern. Dafür ist Politik da.
Von Ihrem Büro hier zu dem des SPD-Fraktionschefs ist es nicht weit – man muss in dem Bundestagsgebäude nur schnell eine Treppe heruntergehen. Wie läuft die Zusammenarbeit zwischen Ihnen und Matthias Miersch?
Das läuft gut, persönlich und in der Sache. Uns geht es darum, zügig zu Kompromissen zu kommen. Wir wissen, was wir dem jeweils anderen zumuten können und was nicht.
Wie oft sind Sie die Treppe schon gelaufen?
Ein paar Mal. Im Herbst wollen wir viele Gesetze beschließen und werden dann auch Konflikte auflösen müssen. Streit wie in der Ampel oder der letzten Großen Koalition darf sich unser Bündnis nicht leisten. Den Willen zur Gemeinsamkeit muss man auch in den kleinen Dingen erkennen.
Nämlich?
Wir sollten uns als Union und SPD auch gegenseitig im Plenum applaudieren.
Das funktioniert noch nicht immer.
Wir üben noch.
Gibt es aus Ihrer Zeit als Gesundheitsminister in der Pandemie einen Fehler, den Sie sich selbst nicht verzeihen können?
Wenn es etwas gäbe, das ich mir nicht verzeihen könnte, säße ich jetzt nicht mehr hier.
Viele kritisieren, Sie hätten riesige finanzielle Schäden beim Einkauf von Masken zu verantworten.
Mit dem Wissen von heute haben wir zu viele Masken zu teuer gekauft. Und natürlich habe auch ich Fehler gemacht. Aber: Wir hatten begründete Sorge, im plötzlichen weltweiten Kampf um Masken nicht genug zu bekommen. Das war der plötzliche gesundheitspolitische Kriegsfall. Ich werde mich jedenfalls nicht dafür in den Staub werfen, dass wir in dieser Lage pragmatisch gehandelt haben. Wir haben dieses Land gut durch diese Jahrhundertkrise geführt. Das sieht auch die Mehrheit der Bevölkerung so.
Im Untersuchungsbericht der Sonderbeauftragten aus dem Gesundheitsministerium heißt es, „politischer Ehrgeiz“ habe dazu geführt, dass in der Pandemie nicht als „Team Staat“, sondern als „Team Ich“ gehandelt wurde. Erkennen Sie sich wieder?
Das sind persönliche Bewertungen einer einzelnen Person, die noch von der Ampel eingesetzt wurde. Klar hatte ich den Ehrgeiz, das zu meistern. Ich erwarte von jedem Politiker in Krisenzeiten Ehrgeiz. Dass das in dem Bericht negativ gewertet wird, spricht für sich. Der Bericht sollte möglichst schnell an den Bundestag gehen. Dann kann ich ihn auch endlich selbst lesen – und die sachliche Auswertung kann beginnen. Die Pandemie müssen wir breiter aufarbeiten. Dafür werden wir definitiv noch vor der Sommerpause eine Enquete-Kommission einsetzen. Wir werden aus dieser Pandemie lernen.
Einer, der Merz’ Vertrauen gewonnen hat
Politik Jens Spahn ist 45 Jahre alt, hat aber als Politiker bereits mehr erlebt als viele Kollegen, die 20 Jahre älter sind. Im Jahr 2002, also im Alter von 22, zog der Münsterländer erstmals in den Bundestag ein. In der letzten großen Koalition unter Führung von Angela Merkel war Spahn von 2018 bis 2021 in Zeiten der Corona-Pandemie Gesundheitsminister. Als es darum ging, wer Merkel im CDU-Vorsitz nachfolgen sollte, kandidierte Spahn erst selbst und später im Team mit Armin Laschet gegen Friedrich Merz. In den Oppositionsjahren der Union nach der Wahl 2021 gewann Spahn Merz’ Vertrauen. Jetzt nimmt er den zentralen Posten des Unionsfraktionschefs ein.
Ausbildung Spahn ist gelernter Bankkaufmann und hat Politikwissenschaft an der Fernuni Hagen studiert.