Juso-Chef Philipp Türmer, warnt vor Leistungskürzungen in den Sozialversicherungen. Auch das Bürgergeld könne eine Gewissensfrage für Abgeordnete sein.
Juso-Chef Philipp Türmer fordert einen größeren Beitrag der Vermögenden, um den Haushalt auszugleichen.
Von Tobias Peter
Juso-Chef Philipp Türmer fordert von der SPD-Führung einen klareren Kurs. Er kritisiert die Regierungsmannschaft seiner Partei habe ihre Rolle noch nicht richtig gefunden.
Die schwarz-rote Bundesregierung ist seit mehr als 100 Tagen im Amt. Welche Note geben Sie ihr?
Wir Jusos tun uns schwer mit Noten – und wollen sie auch in den Schulen abschaffen.
Friedrich Merz und Lars Klingbeil sind ja eine Weile aus der Schule raus.
Klar ist: Der Start von Schwarz-Rot ist alles andere als gelungen. Dass zum Beispiel der Druck von Rechtspopulisten in den Sozialen Netzwerken dazu geführt hat, dass Frauke Brosius-Gersdorf nicht zur Verfassungsrichterin gewählt werden konnte, ist ein Debakel für die demokratische Kultur.
Wie sehen Sie Ihre eigene Partei, die SPD, in der Regierung?
Die SPD muss in der Regierung noch erheblich an Profil gewinnen. Die Menschen müssen klarer erkennen können: Die SPD ist die Partei, die das Land gerechter machen will – und die Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen das Leben erleichtert. Die SPD-Regierungsmannschaft hat da ihre Rolle noch nicht richtig gefunden.
Ist Klingbeil bei der Wahl zum Vorsitzenden auf dem Parteitag deshalb mit einem desaströsen Ergebnis abgestraft worden?
Unsere Partei hat ein katastrophales Ergebnis bei der Bundestagswahl eingefahren. In der Wahrnehmung der Delegierten war Lars Klingbeil der Einzige, der dafür direkt verantwortlich war und wieder angetreten ist. Dieser Frust hat sich dort entladen.
Was erwarten Sie jetzt von den beiden Vorsitzenden, also von Klingbeil und von Arbeitsministerin Bärbel Bas?
Klingbeil, Bas und die ganze SPD müssen mehr tun, um den Fokus der gesellschaftlichen Debatte zu verschieben. Das, was wir zu einer gerechteren Verteilung von Vermögen, höheren Löhnen und einer funktionierenden öffentlichen Daseinsvorsorge vertreten, ist mehrheitsfähig. Diese Standpunkte müssen wir laut und zugespitzt vertreten. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Debatte von rechter Seite immer stärker mit Kulturkampfthemen dominiert wird.
Klingbeil hat gesagt, dass er mit Blick auf das drohende Loch von 30 Milliarden Euro im Haushalt 2027 höhere Steuern für besonders Reiche als Option nicht vom Tisch nehmen will.
Das ist richtig so. Ich wünsche mir, dass Klingbeil noch klarer sagt, wohin die Reise gehen muss. In der Finanzplanung fehlen gigantische Milliardensummen. Da muss es selbstverständlich sein, dass Vermögende und Menschen mit besonders hohen Einkommen einen größeren Beitrag leisten. Die Vermögen in Deutschland sind – auch in den Krisenjahren – immer größer geworden. Arbeitnehmer müssen kämpfen. Das ist ungerecht und muss sich ändern.
Die Union fordert Einsparungen beim Bürgergeld. Müssen sich angesichts der Größe der Finanzprobleme sowohl Union als auch SPD bewegen?
Es ist eine bewusste Täuschung der Öffentlichkeit, wenn die Union so tut, als ließe sich jede Finanzlücke durch Einsparungen beim Bürgergeld füllen. Beim Umgang mit den Empfängern gelten klare verfassungsrechtliche Vorgaben. Die gelten auch für die Union.
Die Finanzprobleme des Staates werden noch größer, wenn die hohen Kredite für Verteidigung zurückgezahlt werden müssen.
Das stimmt. Die SPD darf eines nie zulassen: dass die ganz normalen Arbeitnehmer mit einer Mehrwertsteuererhöhung oder einer höheren Einkommenssteuer die Zeche dafür zahlen. Im Gegenteil: Wir müssen die Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen entlasten, gerade bei den Sozialbeiträgen.
Die Sozialbeiträge liegen bei 42 Prozent – Tendenz: steigend. Der Kanzler fordert deshalb einen „Herbst der Reformen“. Hat er dabei die Jusos – überraschenderweise – auf seiner Seite?
Ich höre vom Kanzler nur Schlagworte und keine konkreten Konzepte. Wenn die Idee hinter einem Herbst der Reformen Sozial- und Leistungskürzungen sind, kann ich nur klipp und klar sagen: Die SPD darf da keinen Zentimeter mitgehen.
Der Kanzler hat im Fall der gescheiterten Verfassungsrichterwahl von der Gewissensfreiheit der Abgeordneten gesprochen. Sollten sich SPD-Abgeordnete darauf berufen, wenn Sozialkürzungen im Raum stehen?
Eine Verringerung des Leistungsniveaus in der Krankenversicherung oder auch in der Rente sind rote Linien für die SPD. Auch bei der Reform des Bürgergeldes gilt: Jeder Abgeordnete sollte gut prüfen, welcher Änderung er zustimmen kann. Da muss hart verhandelt werden. Die Gewissensfreiheit der Abgeordneten gilt auch bei sozialen Themen.
Die Menschen werden, zum Glück, immer älter – das sorgt für höhere Beiträge bei Rente, Krankenversicherung und Pflege. Welchen Zauberstab haben Sie, mit dem Sie Beiträge senken wollten, ohne dass dies Einfluss auf die Leistungen hat?
Die Frage ist doch: In was für einem Land wollen wir leben? Wollen wir, dass die Menschen künftig – über das, was heute schon üblich ist, hinaus – beim Zahnarzt alles selbst zahlen? Die große Mehrheit lehnt das ab. Die Antwort muss also lauten: Mehr Solidarität! Alle müssen in eine gemeinsame Bürgerversicherung einzahlen, also auch Beamte, Selbstständige und Abgeordnete. Gute Renten kann es nur geben, wenn wir für Wachstum sorgen und für gute Löhne kämpfen. Und: Auch bei der Altersversorgung muss die SPD darauf dringen, dass alle in ein System einzahlen. Dass die einen Renten und die anderen Pensionen bekommen, ist nicht gerecht.
Um die Rente zu stabilisieren, braucht es viele Stellschrauben. Warum kämpfen Sie als Sozialdemokrat nicht dafür, dass die breite Bevölkerung – über eine Kapitalkomponente in der Rente – auch von den hohen Gewinnen an den Aktienmärkten profitiert?
Aus meiner Sicht ist das ein logischer Fehlschluss. Den Menschen hilft es nicht, wenn sie von ihrer eigenen Ausbeutung profitieren. Wenn die Löhne gekürzt werden, dann steigen die Aktien. So viele Aktien kann kein Arbeitnehmer haben, dass er davon ausreichend profitieren würde.
Nachfolger von Schröder, Nahles und Kühnert
StudiumPhilipp Türmer (29), geboren in Offenbach, ist seit November 2023 Vorsitzender der Jusos. Er hat erst Wirtschaftswissenschaften im Bachelor und anschließend Jura an der Universität in Frankfurt am Main studiert. Das erste Staatsexamen in Jura hat er hinter sich, das zweite folgt noch.
PolitikDie Jusos stehen als Jugendorganisation der SPD weiter links als die Gesamtpartei. Zugleich sind sie eine Talentschmiede. Frühere Juso-Vorsitzende waren zum Beispiel Gerhard Schröder, Andrea Nahles und Kevin Kühnert.