Kinder aus der Armut holen ist teuer

Warum trotz guter Konjunktur und Arbeitsmarktlage der Rems-Murr-Kreis immer mehr für Jugendhilfe zahlen muss

Ein Phänomen, das die Sozialpolitiker beschäftigt. Da rufen die Ökonomen eine Nahezu-Vollbeschäftigung aus, und trotzdem gibt es für den Landkreis nichts zu sparen. Auch an der Sozialhilfe nichts. Und, wie jetzt im Jugendhilfeausschuss klar wurde, auch nichts an den Hilfen für Kinder und Jugendliche, für welche die Eltern nicht ausreichend sorgen können.

Kinder aus der Armut holen ist teuer

Die gute Wirtschaftslage kommt nicht überall an. Auch zahlreiche Kinder und Jugendliche im Rems-Murr-Kreis sind von Armut betroffen. Foto: Fotolia/RalfGeithe

Von Jörg Nolle

WAIBLINGEN. Klar: Wenn die Steuereinnahmen sprudeln, die Arbeitslosigkeit auf einen Sockel von drei Prozent sinkt, dann muss noch lange nicht alles gut sein im Lande. Menschen arbeiten voll und können trotzdem nicht davon leben. Die Schere der Einkommen geht weiter auseinander. Im Alter von 55 Jahren bekommt man eben doch keinen Job mehr. Der Anteil der Alleinerziehenden ist konstant hoch. Die Mütter (oder alleinerziehenden Väter) wollen freilich auch arbeiten – was ja auch gut ist.

Knapper Wohnraum ist

ein großes Problem

Also springt das Jugendamt ein, um in die Erklärungen für den weiter steigenden Jugendhilfeetat einzusteigen. Holger Gläss hat in einem Papier für die Kreisräte das Paradoxon auf den Punkt gebracht. Der Jugendamtsleiter des Kreises schreibt: Im gesamten Land Baden-Württemberg steigen die Kosten. Wirtschaftliche Hochkonjunktur bedeutet nicht automatisch weniger Bedarf. Die Politik in Bund und Land tut sich vielleicht gerade in solchen Zeiten leichter, in Qualität zu investieren. Jugendhilfe muss als Ausfallbürge für andere Systeme einspringen. Und: „Wir bemühen uns um Steuerung, aber Steuerung benötigt Zeit.“ Es beginnt damit, dass wir in einem Ballungsraum leben. Die Bevölkerung nimmt zu. Der Wohnraum wird knapp. Ein „Riesenproblem“ (Gläss), das, wenn es sich nicht im Etat des Jugendamts niederschlägt, zumindest allen Beteiligten Stress macht. Im Sozialarbeiter vollends den Fallmanager fordert.

Der Stress in der Gesellschaft hat sicher nicht abgenommen. Wie anders als mit einem verallgemeinernden und zugleich verharmlosenden Begriff soll man sich erklären, dass die sogenannten Inobhutnahmen, egal ob im Heim oder in einer Pflegefamilie, bundesweit von 2010 bis 2017 um 16 Prozent gestiegen sind. Im Rems-Murr-Kreis gar um 24.

Und dann, das ist das Erschreckende hinter all dem, hat Armut in diesem reichen Land eben auch ein Kindergesicht. Sowohl die Quote der leistungsberechtigten Kinder unter 18 Jahren ist stark angestiegen als auch die absolute Zahl der Kinder und Jugendlichen, die in Bedarfsgemeinschaften leben – wo HartzIV gilt. Wenn nicht richtig geholfen wird, dann verfestigt sich eben auch Armut. Von 2013 bis 2018 ist allein die absolute Zahl um 17 Prozent gestiegen.

Zuschussbedarf steigt um

bis zu vier Millionen Euro

Fürs kommende Jahr rechnet Gläss mit 200000 Euro plus bei der Schulbegleitung, Stichwort Inklusion, und Integration in Kindergärten. Des Weiteren 200000 Euro plus bei der Heimerziehung für seelisch behinderte junge Menschen; 300000 Euro plus bei der klassischen Heimerziehung und 400000 Euro plus bei der Vollzeitpflege als Ersatz für die sonst teurere Heimerziehung.

Und dann findet sich da noch eine große, relative Unbekannte im Etat: die Kosten für die Kindertagespflege. Da unterstütz der Kreis die Familien, damit sie sich die Betreuung leisten können. Nach dem „Pakt für gute Bildung und Betreuung“ zwischen dem Land Baden-Württemberg und den kommunalen Landesverbänden sollen die Sätze erhöht werden. Werden die laufenden Geldleistungen entsprechend der in den Empfehlungen genannten Beträge angepasst – für Kinder unter drei Jahren 6,50 Euro, für Kinder über drei Jahre 5,50 Euro pro Stunde –, so erhöht dies den Zuschussbedarf um rund 800000 Euro.

Ob der Landkreis dabei mitzieht, soll nächsten März entschieden werden. Je nachdem betragen die Gesamtausgaben im kommenden Jahr 65,6 bis 66,4 Millionen Euro. Der Zuschussbedarf beläuft sich dann auf 43,5 oder 44,3 Millionen Euro. Fürs laufende Jahr war mit einer Summe von 40,4 Millionen Euro gerechnet worden.