Kleines Dorf am Rand der Stadt

Die Leute von nebenan (9): Allem Wandel zum Trotz prägt ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl die Robert-Kaess-Siedlung

Zwei Straßenzüge, 32 Häuser – das ist die Robert-Kaess-Siedlung in Backnang. Sie wirkt wie ein eigenes kleines Dorf, eine Lebensgemeinschaft am Rand der Stadt. Seit dem Bau der Häuser in den Jahren 1937 und 1938 hat sich zwar viel verändert. Doch das Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Bewohnern ist nach wie vor stark ausgeprägt.

Kleines Dorf am Rand der Stadt

Vor dem einstigen Berta-Kaess-Kinderhort, wo heute der Kindergarten Robert-Kaess-Siedlung untergebracht ist (von links): Isabella Schreiber, Elke Eißler-Lutz, Thomas Herter und Bodo Klein. Rechts geht es zu den Räumen der Gartenfreunde mit der Siedlerstube. Foto: T. Sellmaier

Von Armin Fechter

BACKNANG. Von den ursprünglichen Erbauern ist heute keiner mehr da. Die Frauen und Männer, die ihre Eigenheime damals errichteten, müssten jetzt schon weit über 100 Jahre alt sein. Ein Urgestein der Siedlung war Lisel Mattenklodt, allgemein bekannt unter dem Namen Oma Matte. Sie wurde 96 Jahre alt. Das Haus, das sie und ihr Ehemann Albert bauten, steht noch. Nicht nur das: Es befindet sich nach wie vor in Familienbesitz. Heute lebt dort die Enkelin Isabella Schreiber mit ihrer Familie. „Nur der Name hat sich geändert“, lacht die junge Frau. Ihre Kinder stellen bereits die vierte Generation dar, die in dem Gebäude zu Hause ist – sie sind gleichsam die jüngste Siedlergeneration.

Doch das ist nicht überall so: Viele Häuser wurden in den vergangenen Jahrzehnten auch an neue Besitzer verkauft, weil die Erben längst weggezogen waren, sich anderswo niedergelassen und selbst gebaut hatten. Mithin hatten sie keinen Bedarf mehr für das Eigenheim der Eltern oder Großeltern in Backnang. So sind dann sukzessive andere Familien in die Siedlung dazugekommen. Zum Beispiel Bodo Klein, der seit 1981 dort daheim ist. Zunächst war er als Mieter in das Haus eingezogen, dann bekam er aber, weil er sich tatkräftig um den Garten kümmerte, von Besitzerseite ein Vorkaufsrecht eingeräumt. Diese Option nutzte er, als die Erbengemeinschaft das Haus zum Kauf anbot.

Das Unternehmen bot Mitarbeitern die Chance, ein Haus zu errichten

Die Siedlung entstand im Zuge der nationalsozialistischen Wohnungsbaupolitik. Sie geht auf die Lederwerke Backnang zurück, die dem Fabrikanten Carl Kaess gehörten. Das Unternehmen bot Mitarbeitern die Möglichkeit, in der späteren Robert-Kaess-Straße und im Drosselweg ihr Eigenheim zu errichten.

Drei Häusertypen – alles eingeschossige Satteldachgebäude – standen zur Wahl, die Baupreise lagen zwischen 6600 und 8500 Mark plus Grunderwerb. Die Firma unterstützte den Bau mit zinslosen Darlehen. Gärten an den Häusern und Ställe für Hühner und Hasen sollten die Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln stärken. Davon ist heute aber nicht mehr viel übrig. Viele Gebäude haben Erweiterungen erfahren: Da wurde eine Garage errichtet, dort ein Wintergarten oder ein größerer Anbau, um den gestiegenen Wohnraumbedarf zu erfüllen.

Von Anfang an herrschte unter den Siedlern ein ausgeprägter Gemeinschaftsgeist. „Die Leute haben sich schon beim Bau gegenseitig geholfen“, erzählt Bodo Klein, der als langjähriger Vorsitzender und heutiger Ehrenvorsitzender der Gartenfreunde Robert-Kaess-Siedlung das inoffizielle Amt eines Siedlungsbürgermeisters ausübte und sich mit der Entstehungsgeschichte eingehend befasst hat.

Um die Produktion in den Gärten zu steigern, wurden einst Sammelbestellungen von Torf organisiert. Bis vor einigen Jahren gab es auch noch Sammelbestellungen für Heizöl, um günstige Preise zu erzielen – immerhin ging es da um Mengen von bis zu 40000 Litern. Man pflegte ein starkes Gemeinschaftsleben und schloss sich organisatorisch unter dem Namen Siedler und Eigenheimer Robert-Kaess-Siedlung zusammen, dem Vorläufer der Gartenfreunde.

Die Siedlung verfügte sogar von Beginn an über einen von der Firma gestifteten Kindergarten, den Berta-Kaess-Kinderhort. Er trägt heute den Namen Kindergarten Robert-Kaess-Siedlung, der Bau steht unter Denkmalschutz. Die erste dort tätige „Kindertante“ Johanna Winter berichtete später, der Kindergarten sei im Vergleich zu anderen Einrichtungen „sehr luxuriös ausgestattet“ gewesen, insbesondere was die sanitären Anlagen betrifft. Sie selbst hatte eine günstige kleine Wohnung im Oberstock des Gebäudes, für die sie 15 Mark zahlen musste. Zugleich bekam sie „das Höchstgehalt von 230 Reichsmark im Monat“.

Im unteren Geschoss des Kindergartens befindet sich die von den Vereinsmitgliedern ausgebaute Siedlerstube, in der unterschiedlichste Aktivitäten für die Mitglieder der Gartenfreunde sowie für Kinder und Jugendliche aus dem Viertel angeboten werden, von Schnittkursen und Fachvorträgen zu Gartenbauthemen bis hin zu geselligeren Events wie Apfelessen und Weinprobe. Sogar eine fröhliche Schnapsverkostung gab es mal – für Siedlungsbewohner kein Problem: „Dreimol omhagla isch mr dahoim“, sagt Klein mit Augenzwinkern. Zusammen mit einem früheren Musikerkollegen aus dem Flamingo-Sextett hat er in der Stube auch schon Faschingsveranstaltungen bestritten. Jeden Monat eine Veranstaltung, so der Plan der Gartenfreunde. Und die Resonanz ist anhaltend gut. Alljährlicher Höhepunkt ist das Siedlungsfest mit einem Platzkonzert des Städtischen Blasorchesters – eine der besten Gelegenheiten, neue Nachbarn ungezwungen zu treffen.

Programm für die Kinder und Besuche bei kranken Nachbarn

Wie Isabella Schreiber, so hatte auch Thomas Herter familiären Bezug zur Siedlung, als er sich in diesem Stadtteil niederließ. In seinem Fall war es so, dass das Haus einer Tante und einem Onkel gehörte. Das Paar war kinderlos geblieben, es legte daher dem Neffen ein Vorkaufsrecht ans Herz. Elke Eißler-Lutz hingegen ist mit ihrer Familie 2001 neu in die Siedlung gezogen, damals mit zwei Kindern. Das dritte ist dann im eigenen Haus geboren. Die erste Veranstaltung, an der sie teilnahm, war eine Weihnachtsfeier. Sie findet das Gemeinschaftsleben „genial“: Die Kinder können sich regelmäßig treffen und miteinander etwas unternehmen, und auch die Jugendlichen machen bei gemeinsamen Aktionen mit. Und man stützt sich gegenseitig. Wenn jemand krank ist, wird er oder sie besucht. Und als eines Tages eine Frau ins Hospiz kam und einen älteren Kater allein zurückließ, schafften es die Nachbarn, dass das verwaiste Tier umgezogen ist – das war dann der Robert-Kaess-Kater.

„Hier kennt jeder jeden“, bestätigt Isabella Schreiber. Sich etwas ausleihen, Nachbarn um Unterstützung bitten: „Hättsch mer net, könntsch mer net...“, das sei kein Problem. Man trifft sich nach Feierabend, man sieht sich bei der Gartenarbeit – „jeder hat für jeden ein offenes Ohr“, schwärmt die Frau, die es andernorts auch schon anders erlebt hat. Dank der Stadtrandlage sei man schnell draußen, aber auch gleich im Zentrum. Und die Schule ist um die Ecke. Einen Laden gibt es zwar nicht, aber samstags, von Bodo Klein organisiert, frische Backwaren, „da sieht man jeden“.

Noch ziemlich frisch in der Siedlung ist Ulrike Schlag. Sie hat 2017 zusammen mit ihrem Partner ein Haus gekauft, für das die Erbin keine Verwendung hatte, und ist von Esslingen hergezogen. Das Paar hatte davor im ganzen Umkreis von Stuttgart ein Eigenheim gesucht und war von dem Fund in der Robert-Kaess-Siedlung sofort begeistert. Ulrike Schlag, beim Besichtigungstermin hochschwanger, freute sich dann, unter 35 Bewerbern den Zuschlag zu erhalten. „Ich find’s schön hier“, sagt die Frau, die ursprünglich aus Leipzig kommt. Über die Kinder, aber auch durch die Events in der Siedlung habe sie rasch in die Gemeinschaft reingefunden. In Baden-Württemberg gehe es sonst überall sehr anonym und unterkühlt zu, hat sie beobachtet, da sei’s umso schöner, „dass hier was los ist“. Das Leben in der Siedlung fasst sie in die Worte: „Jeder hat seins. Jedes Haus hat seinen eigenen Charakter. Und man kann immer zu den anderen rübergehen.“