Kritik an Impfstrategie der Niederlande

Von Von Annette Birschel, dpa

dpa Den Haag. Stell dir vor, es gibt einen Corona-Impfstoff und keiner impft. So ähnlich ist es in den Niederlanden. Während ganz Europa impft, herrscht dort Chaos. Der Unmut wächst - und die Verzweiflung.

Kritik an Impfstrategie der Niederlande

Mitarbeiter packen den ersten Corona-Impfstoffe von Pfizer und Biontech für die Niederlande aus. Foto: Robin Van Lonkhuijsen/ANP/dpa

Wir befinden uns im Monat elf der Corona-Pandemie. Ganz Europa impft. ... Ganz Europa? Nein, ein kleines, eigensinniges Land im Nordwesten macht (noch) nicht mit. Mit diesem Asterix-Klassiker beschreiben derzeit viele Niederländer das Impf-Fiasko im eigen Land.

Während in allen EU-Ländern bereits seit Tagen gegen das Coronavirus geimpft wird, herrscht in den Niederlanden Chaos. Auch am Neujahrstag ist nicht deutlich, wer, wann und wo geimpft werden soll.

Seit Weihnachten liefert der Hersteller Pfizer, und inzwischen liegen rund 175 000 Impfdosen in einer Lagerhalle in Oss im Südosten des Landes bereit. Doch erst am 8. Januar sollen die ersten Menschen geimpft werden. Am 18. Januar geht es dann nach der Planung richtig los - gut drei Wochen später als der Rest Europas. Inzwischen vergeht den sonst so lockeren Niederländern das Witzeln, Wut macht sich breit - und Verzweiflung.

Die Not wird immer größer. Krankenhäuser haben nicht genug Personal, sie müssen bereits Krebsoperationen absagen, Soldaten helfen. Mit einem dramatischen Appell richteten sich die Verantwortlichen der akuten Gesundheitsversorgung am Mittwoch an die Behörden: „Schickt den Impfstoff in die Krankenhäuser, dann können wir ab Montag unsere Mitarbeiter impfen“, sagte der Vorsitzende der Intensiv-Medizin, Diederik Gommers, im TV-Nachrichtenmagazin Nieuwsuur.

Neidisch schauen viele Niederländer auf die deutschen Nachbarn, wo der Impfbetrieb in großen Hallen laufen soll. Doch in den Behörden hatte man bisher die Organisation der Deutschen eher abschätzig beurteilt. Dass Deutschland in kürzester Zeit eine Infrastruktur aus dem Boden stampfte, wird gern als „Kraftprotzerei“ bewertet. Die Niederländer würden das nicht mit Muskelkraft tun, sagte etwa Jaap van Delden, Chef des Impfprogramms beim Institut für Gesundheit und Umwelt (RIVM) der Zeitung „Volkskrant“. „Ich denke, dass Schlauheit wichtiger ist.“ Inzwischen fragen sich viele: Wo bleibt das schlaues Köpfchen?

Zum ersten Mal seit Ausbruch der Pandemie steht die Regierung von Premier Mark Rutte schwer unter Beschuss. Das Fiasko wird vor allem Gesundheitsminister Hugo de Jonge angelastet. Doch er hält einen früheren Impftermin „verantwortungslos“. „Wir müssen das sorgfältig tun“, verteidigte er sich gegen zunehmende Kritik in Medien und Parlament.

Als ob alle anderen EU-Länder nicht sorgfältig seien, reagierte der renommierte Experte für Infektionskrankheiten, Roel Coutinho, im TV-Magazin „Nieuwsuur“. „Sorgfältig sind sie doch in allen Ländern.“ Coutinho, der selbst Jahre lang Direktor des RIVM war, nannte die Impfstrategie „beschämend“. „Man sieht, wie groß die Not ist. Es ist wichtig, schnell anzufangen. Das müssen wir in den Niederlanden doch auch können.“

Die Ursache des Desasters ist eine Fehleinschätzung. Viel zu lange dachten die Behörden, die Jahrhundert-Operation sei ebenso locker zu organisieren wie die jährliche Grippeschutzimpfung. Aber man hatte auf das falsche Pferd gesetzt. Nicht der Impfstoff der Hersteller Astrazeneca und Oxford-Universität kam als erstes auf den Markt, sondern das Präparat von Pfizer und Biontech. Das aber ist viel weniger handlich als das Mittel der britischen Konkurrenz.

Keiner dachte daran, dass die Großverpackungen und die Aufbewahrungstemperatur von minus 70 Grad problematisch sein könnten. Dabei hatte Hersteller Pfizer die Behörden schon ausführlich im Oktober darüber informiert. Auch das Computersystem ist noch nicht fertig, und die Mitarbeiter der Impfzentren werden erst seit dieser Woche ausgebildet.

Weil das Land es nicht auf die Reihe kriegt, den Impfstoff in Alten- und Pflegeheime zu bringen, soll nun zuerst Pflegepersonal geimpft werden - und nicht wie in anderen Ländern die besonders gefährdete Gruppe der Alten und Kranken. Kritik weist der Gesundheitsminister zurück: „Eine Woche mehr oder weniger macht nichts aus.“

Das sehen viele doch anders. Jede Woche sterben rund 400 Menschen, und es gibt rund 70.000 Neuinfektionen. „Jede Woche zählt“, sagte der Experte Coutinho. „Es ist dramatisch zu sagen, aber natürlich kostet das Menschenleben.“

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