Ukraine-Krieg

Lächeln an der Front, weinen im Keller

In der Sowjetunion lernte Regisseurin Angela Denisenko den heutigen Präsidenten Selenskyj in der Comedy-Szene kennen, heute verteilt sie Hilfsgüter – und Lebensfreude.

Lächeln an der Front, weinen im Keller

Angela Denisenko arbeitet auch mit deutschen Organisationen wie dem Trierer Verein „Viele Hände für die Hoffnung“ zusammen.

Von Frederik Herrmann

Die Tage von Angela Denisenko beginnen früh. „Oft schlafe ich gar nicht“, sagt die Professorin aus Charkiw. Stattdessen packt sie Pakete, schreibt Berichte, teilt Videos und Bilder von ihren Spendenaktionen auf ihrem Social-Media-Profil. Ihr lockiges blondes Haar trägt sie zum Doppeldutt, um den Hals hängt ein Geldbeutel mit den gelben Gesichtern der Minions. Wenn sie sich bei Spendern bedankt, formt sie Herzen mit ihren Händen, andere Freiwillige begrüßt sie mit einem fröhlichen „I love you“. Sie verkörpert alles andere als militärische Härte, trotzdem wird sie gerade von Soldaten aus der gesamten Region geschätzt.

Sie lädt einen gespendeten Kühlschrank und einen Generator in einen Transporter – Hilfsgüter für die Kämpfer nahe der Front. In der rund 80 Kilometer entfernten Grenzstadt Woltschansk toben schwere Kämpfe. Viele befürchten einen Durchbruch der russischen Truppen und einen Angriff auf die Millionenstadt Charkiw. Die Lage ist angespannt. Doch als sie die Stadt verlässt, muss die 57-Jährige nicht lange an den Kontrollpunkten warten – man kennt sich.

Seit 2014, als prorussische Separatisten Städte in Donezk und Luhansk mit der Unterstützung Russlands besetzten, unterstützt sie das ukrainische Militär. Sie ist Teil der Freiwilligenorganisation „Help Army“. Denn das ukrainische Militär ist auf Spenden angewiesen. Große Teile der Verpflegung, Ausrüstung und auch Fahrzeuge werden von Freiwilligen bereitgestellt. Dennoch gebe es von allem zu wenig, berichten Soldaten. Denisenko sammelt aber auch für Zivilisten, die unter dem Krieg leiden. Immer wieder verteilt sie Lebensmittel und Hygienepakete, besucht die Menschen in ihren Dörfern, singt Lieder, macht Scherze und ringt auch jenen ein Lächeln ab, denen der Schmerz der vergangenen Jahre ins Gesicht geschrieben steht.

Wohnhäuser völlig zerstört

Nach dem Einmarsch Russlands im Februar 2022 wurde auch Charkiw belagert. Wochenlang schlugen Raketen und Artillerie ein. Laut der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch wurden in einigen Vierteln Streubomben eingesetzt, hunderte Zivilisten kamen ums Leben. Mehr als 100 Menschen suchten in dieser Zeit mit Denisenko Schutz im Keller der Universität. Mehrere Tage verharrten sie dort, bis das Dröhnen über ihnen wieder verstummte. An der Oberfläche bot sich anschließend ein Bild der Verwüstung: Die Druckwelle einer Bombe, die nur wenige Meter neben der Universität einschlug, zerstörte die Fenster des Gebäudes. Holzlatten schützen die Räume seitdem vor Kälte. Auch andere Gebäude der Stadt wie das Opernhaus und das Verwaltungszentrum wurden beschädigt, ganze Wohnhäuser völlig zerstört.

Einnehmen konnten die russischen Invasoren die Stadt bislang nicht. Nicht weit entfernte Orte wie Balaklija, Kupjansk und Isjum standen dagegen monatelang unter russischer Besatzung. Nach einem halben Jahr konnte die ukrainische Armee die Gebiete im Herbst 2022 wieder zurückerobern. „Viele Menschen wurden ausgeraubt, ermordet und vergewaltigt“, sagt Angela Denisenko. In Isjum wurden nach der Befreiung der Stadt Massengräber entdeckt. 449 Leichen – Männer, Frauen und Kinder – fanden Ermittler am Rande der Stadt. Bei dem Großteil soll es sich um Zivilisten gehandelt haben. Viele wiesen Folterspuren auf, wie Untersuchungen der örtlichen Behörden zeigten.

Etwa die Hälfte der Einwohner floh während der Kämpfe. Heute kehren viele wieder zurück in die zerstörte Stadt. Laut Vize-Bürgermeister Wolodymyr Mazjukin sind 80 Prozent der mehrstöckigen Wohnhäuser schwer beschädigt oder völlig zerstört. Auch die Menschen in Isjum hat Denisenko schon versorgt. Sie sagt: „Ich habe für mich beschlossen, die Menschen nicht zu bemitleiden, wenn ich sie besuche. Ich bringe ihnen Freude – weil ich weiß, dass sie diese Kraft brauchen, um dem Bösen standzuhalten. Doch diese Rolle kostet Kraft. Ich fühle ihren Schmerz, aber ich habe kein Recht, sie mit meiner Trauer zu belasten.“ Und trotzdem: „Manchmal komme ich von einer Hilfsmission zurück und weine.“

Viele ihrer Spenden erhält Denisenko von Freunden, Bekannten und ehemaligen Studierenden. Die leben inzwischen in den USA, Polen, Griechenland und auch Deutschland. An der Universität Charkiw unterrichtet sie Schauspiel. Früher war sie als Regisseurin tätig. Zur Sowjetzeit leitete sie eine Komikertruppe in Charkiw, die regelmäßig in der sowjetischen Show KVN auftrat. Übersetzt heißt die Sendung so viel wie Klub der Lustigen und Einfallsreichen. Darin treten Gruppen aus verschiedenen Städten in humorvollen Wettstreiten gegeneinander an. Dort lernte Denisenko auch den späteren ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj kennen, der das Team seiner Heimatstadt Krywyj Rih leitete.

Als der Krieg begann, wandten sich viele der ukrainischen Teams ab und erstellten eigene Formate. Auch Selenskyj, der das Medienunternehmen „Studio Kwartal 95“ gründete und später die Serie „Diener des Volkes“ produzierte. Darin spielt er einen Lehrer, der überraschend zum Präsidenten gewählt wird – eine Rolle, die ihn in der Ukraine große Sympathien gebracht hat. Zuvor begegnete Denisenko dem späteren Präsidenten immer wieder auf Veranstaltungen in Sotschi und Moskau. Die Abendveranstaltungen seien immer lustig gewesen, man habe viel gelacht, erinnert sich Denisenko.

Das sei aber lange her. „Seit Jahren feiere ich keinen Geburtstag mehr, treffe keine Freunde“, sagt sie. Wenn der Krieg vorbei ist, will sie wieder reisen. „Dann schreibe ich allen meinen Freunden eine Nachricht, die ich so lange nicht gesehen habe.“

Doch sie weiß, dass nicht alle antworten werden. „Zu viele haben bereits ihr Leben verloren“, sagt sie. Und trotzdem macht sie weiter und plant schon die nächste Spendenlieferung. „Denn jede Minute, die ich verliere, heißt, dass irgendjemand nichts bekommt und vielleicht ohne Essen auskommen muss.“

Transparenzhinweis: Frederik Herrmann war im Mai 2025 mit der Trierer Hilfsorganisation „Viele Hände für die Hoffnung“ in der Ukraine. Der Verein engagiert sich dort in der humanitären Hilfe und arbeitet unter anderem mit Angela Denisenko zusammen.