SPD-Chef und Finanzminister

Lars Klingbeil: „Wir kopieren sicher nicht die Agenda 2010“

Welche Rolle spielt die SPD im angekündigten Herbst der Reformen? Parteichef und Finanzminister Lars Klingbeil sagt, die SPD müsse an der Spitze der Veränderung stehen.

Lars Klingbeil: „Wir kopieren sicher nicht die Agenda 2010“

Wohin führt er die SPD? Vor Parteichef und Finanzminister Lars Klingbeil liegen große Herausforderungen.

Von Tobias Peter und Jacqueline Westermann

Zu wenig zu tun hat SPD-Chef Lars Klingbeil wirklich nicht. In diesen Tagen werden zwei Bundeshaushalte vom Parlament verabschiedet. Im Interview spricht der Finanzminister über den Ruf nach Reformen im Sozialstaat, die schwierige Lage der SPD – und darüber, wann er das letzte Mal das Wort „Bullshit“ verwendet hat.

Herr Klingbeil, haben Sie Jens Spahn schon eine SPD-Ehrenmitgliedschaft angeboten?

Das wird nicht passieren.

Der Unionsfraktionschef hat die ungleiche Vermögensverteilung in Deutschland angeprangert und sieht politischen Handlungsbedarf. Glauben Sie, dass Union und SPD da womöglich etwas gemeinsam hinbekommen können?

Ich habe immer wieder deutlich gemacht, dass ich die Ungleichverteilung von Vermögen in diesem Land für ein Gerechtigkeitsproblem halte. Ich freue mich über jeden, der zustimmt. Hier bin ich Jens Spahn für seine ehrlichen Worte dankbar. Jetzt geht es darum, sich an einen Tisch zu setzen und zu schauen, wie wir Gerechtigkeitsfragen klären können. Und natürlich auch, wie wir im Haushalt für das Jahr 2027 eine Lücke von über 30 Milliarden schließen. Wir werden dafür ein gerechtes Gesamtpaket erarbeiten.

Wäre das vielleicht eine Brücke für Sie? Die Union könnte sich in der Frage der Steuern für besonders Reiche bewegen, die SPD würde dafür Sozialreformen ermöglichen, die schmerzhaft sind, aber ein immer weiteres Ansteigen der Sozialbeiträge verhindern.

Ich brauche keine Brücke, die Menschen merken doch jeden Tag, dass unser Land grundlegende Reformen braucht, um stark zu bleiben. Mich müssen sie da gar nicht überzeugen. Ich werde aber darauf achten, dass es dabei gerecht zugeht.

Braucht das Land eine Agenda 2030, so wie Gerhard Schröder Deutschland damals mit der Agenda 2010 wieder fit gemacht hat?

Wir brauchen ein starkes Paket, mit dem wir dieses Land modernisieren und das für Gerechtigkeit steht. Das heißt auch: Das wird den Menschen in unserem Land etwas abverlangen. Aber alle müssen ihren Beitrag leisten, nicht nur diejenigen, die es die letzten Jahre eh schon schwer hatten. Was ich definitiv sagen kann: Wir kopieren sicher nicht die Agenda 2010. Es war in der Politik noch nie genug, einfach etwas noch mal hervorzukramen. Alles muss auf der Höhe der Zeit sein.

Wann haben Sie das letzte Mal das Wort „Bullshit“ benutzt?

Als ich das Basketball-EM-Finale am Sonntag geguckt und mich über eine Schiedsrichter-Entscheidung geärgert habe.

Ist es Bullshit, dass wir uns den Sozialstaat, so wie er ist, nicht mehr leisten können?

Ich wünsche mir, dass wir jetzt in einen anderen Debatten-Modus kommen. Ich sage auch sehr klar – und das teilt auch Bärbel Bas –, dass sich etwas verändern muss. Die SPD darf niemals die Partei sein, die stumpf am Status Quo festhält, sondern wir müssen an der Spitze der Veränderung stehen. Wir wollen unseren Sozialstaat zukunftsfest machen und dafür jetzt die richtigen Reformen anpacken.

Was bedeutet das?

Es gibt Fehler im System, wir brauchen Veränderungen. Aber wir können auch stolz sein, dass wird diesen Sozialstaat haben. Darauf, dass er Menschen auffängt, die krank werden und Hilfe brauchen. Jetzt geht es um die Frage, wie wir ihn so aufstellen, dass er auch in Zukunft für die Menschen da sein kann.

Sind aus Ihrer Sicht Leistungskürzungen in den Sozialversicherungen denkbar, um die Kosten in den Griff zu bekommen – oder sagen Sie hier von Anfang an Nein?

Ich merke, dass viele ihre Kreativität in Sozialstaatsdebatten auf Leistungskürzungen beschränken. Das ist einfach viel zu kurz gesprungen. Ich stelle nur mal die Frage: Warum bezahle ich als Politiker nicht in das Rentensystem ein? Ich würde das gerne ändern. Das ist aber keine Frage von Leistungsausweitung oder Leistungskürzung, sondern das ist eine Frage von Gerechtigkeit. Und ich frage: Warum haben wir eigentlich so viele gesetzliche Krankenkassen? Das sind Reformdebatten, die wir mutig führen müssen.

Friedrich Merz fordert fünf Milliarden Euro im Bürgergeld einzusparen. Halten Sie das für realistisch?

Wir haben schon Einsparungen eingeplant und uns darauf verständigt, dass wir Reformen beim Bürgergeld machen. Für diejenigen, die sich komplett verweigern, wird der Druck steigen. Das ist auch richtig so.

Damit können Sie aber nicht annähernd fünf Milliarden Euro einsparen.

Das Wichtigste ist, dass wir die Wirtschaft so stärken, dass mehr Menschen eine Arbeit haben. Daran arbeite ich als Finanzminister hart – mit dem Wachstumsbooster, unserem 500-Milliarden-Investitionspaket und der Senkung der Energiekosten. Wenn wir Leute wieder in Jobs bringen, sinkt auch die Zahl der Bürgergeldempfänger.

Sie sind Finanzminister geworden und mussten innerhalb kürzester Zeit zwei Haushalte vorlegen. Haben Sie zwischendurch auch mal gedacht: „Ich kann das nicht, ich bekomme das nicht hin“?

Ich bin mit großem Respekt in diese Aufgabe gegangen. Aber ich habe hier ein tolles Team und wir haben in vier Monaten sehr geräuschlos zwei Bundeshaushalte aufgestellt – obwohl vorher eine Regierung an einem Haushalt gescheitert ist. Dafür mussten wir von Tag Eins an voll loslegen.

Bekommen Sie den Haushalt für 2027 auch geräuschlos hin?

Die Debatte habe ich selber bewusst so früh angestoßen. Wir müssen ein gerechtes Gesamtpaket aus Einsparungen und Reformen schnüren, um die enormen Lücken im Haushalt ab 2027 zu schließen.

Sie setzen auf die Ressorts, mit eigenen Vorschlägen zum Sparen zu kommen. Aber haben Sie selbst eine Idee, wie man die 30 Milliarden-Lücke im Jahr 2027 schließt?

Natürlich mache ich Vorschläge, wie die 30-Milliarden-Lücke geschlossen werden kann. Ich weiß nur nicht, ob jeder in der Regierung sich das automatisch zu eigen machen würde. Deswegen haben wir verabredet, dass die vier Vorsitzenden der Regierungsparteien hierüber vertraulich beraten. Das ist eine Verantwortung, die wir gemeinsam tragen.

Beim Haushalt zeichnen sich Diskussionen ab, beim Verbrenner-Aus werden sie bereits lautstark geführt. Eine SPD-Landesregierung nach der nächsten zeigt sich nun offen für Veränderungen. Tun Sie den Genossen – und der Union – den Gefallen, das Aus ab 2035 noch einmal aufzudröseln?

Ich will nicht an den Klima-Zielen rütteln. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Zukunft der Automobilindustrie elektrisch ist. Jetzt geht es darum, wie wir den Weg gehen können, ohne Tausende Arbeitsplätze zu gefährden. Ich möchte, dass die deutsche Autoindustrie eine gute Zukunft hat, dass die Arbeitsplätze erhalten werden und ich möchte, dass gute Autos weiter hier in Deutschland gebaut werden. Das ist mein Anspruch als SPD-Vorsitzender und Finanzminister.

Also sind Sie gesprächsbereit für den Zeitplan?

Man muss immer gesprächsbereit sein. Sie werden keinen Sozialdemokraten finden, der sagt, dass es ihm egal sei, wenn die deutsche Automobilindustrie unter Druck gerät. Die Menschen, die dort arbeiten, können sich auf uns verlassen.

Apropos sich auf jemanden verlassen: Ist die Verfassungsrichter-Wahl dieses Mal sicher?

Das ist unter den Fraktionen jetzt verabredet. Ich gehe fest davon aus, dass die Union beim Thema Richterwahl diesmal Wort hält. Wir haben eine geeignete Kandidatin, bei der niemand hinterfragt, dass sie hoch qualifiziert und bestens geeignet für das Amt ist. Die Union kann sich hier nicht noch einmal einen Zick-Zack-Kurs erlauben.

Die Umfragewerte der SPD sind nach wie vor schwierig, die Kommunalwahlen in NRW waren allemal ernüchternd. Ist die SPD noch eine Arbeiterpartei?

Ja, die SPD ist und bleibt ohne jeden Zweifel die Partei der Arbeit. Die SPD ist stark, wenn sie sich auf das Thema Arbeit und den Stellenwert von Arbeit konzentriert. Ich bin auch nicht zufrieden mit den Ergebnissen in NRW, aber in Gelsenkirchen und Duisburg sieht man, dass es nur die SPD ist, die die AfD schlagen kann. Dort, wo wir starke Oberbürgermeister haben, die die Probleme vor Ort lösen, sind wir auch erfolgreich.

Ist die SPD noch Volkspartei?

Ja. Volkspartei bedeutet Brücken bauen und nicht, sich auf ein Nischenthema zu konzentrieren.

SPD-Chef, Vizekanzler, Finanzminister – kommen Sie bei Ihren ganzen Verpflichtungen noch zum Abschalten?

Ja. Natürlich ist das eine riesige Herausforderung, aber ich sehe diese Ämter auch als ein Privileg, jetzt dazu beitragen zu können, dass wir unser Land stärker und gerechter machen.

Wie entspannen Sie?

Sport! Radfahren, Crossfit, Joggen, Kickboxen.

Müssen wir Angst haben?

Ich würde einem Journalisten nie etwas tun. Oder sonst jemandem. (lacht)

Als Bauministerin Verena Hubertz mitteilte, dass sie schwanger ist, brach eine Welle der Empörung los. Wie genervt waren Sie von dieser Reaktion? Und sind Sie eigentlich schon einmal gefragt worden, ob Sie Regierungsamt und Elternschaft unter einen Hut bringen können?

Ich bin geschockt gewesen, was eine junge Frau wie Verena Hubertz aushalten muss. Und gleichzeitig ist sie damit unglaublich souverän umgegangen. Es muss im Jahr 2025 völlig normal sein, dass ein Regierungsmitglied genauso wie Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land junge Mutter oder junger Vater sein kann und damit nicht zur Zielscheibe von Hass und Hetze wird. Eine Frau in der Politik steht immer noch mal anders in der Öffentlichkeit. Da schwingt viel Sexismus mit, der in einer modernen Gesellschaft nichts mehr zu suchen hat. Man stellt ihnen Fragen, die man uns Männern so nicht stellen würde. Als Männer haben wir die Pflicht, uns hier genauso deutlich gegen Sexismus und Frauenhass zu positionieren wie Frauen es tun.

Sie haben als Minister lange Tage. Haben Sie Angst, etwas bei Ihrem Sohn zu verpassen?

Die Zeit mit meiner Familie ist mir sehr wichtig – und ich achte auch darauf, dass wir sie haben.