Regierungskrise in Frankreich

Lecornus Himmelfahrtskommando

Scheitert Frankreichs alter und neuer Premier ein weiteres Mal, sieht es für den Präsidenten schwarz aus. Und wohl auch für Frankreich.

Lecornus Himmelfahrtskommando

 

Von Stefan Brändle

Das Stück könnte von Molière stammen – wenn es etwas zu Lachen gäbe. Aber in Paris ist niemand mehr zum Scherzen aufgelegt. Konsterniert verfolgen die Franzosen, was sich in den Pariser Regierungspalästen abspielt. Der erste Akt des „Eingebildeten Präsidenten“ fand schon vor einer Woche statt, als Emmanuel Macron seinen treuen Verteidigungsminister Sébastien Lecornu zum Premier ernannte. 14 Stunden später trat der 39-jährige Liberalkonservative mit der Aura eines Bonvivants wegen interner Streitereien wieder zurück. Das war der zweite Akt. Der dritte versank im politischen Chaos. Dann, am späten Freitagabend, nominierte der Präsident einen neuen Premierminister – Sébastien Lecornu. „Ich habe keinen anderen Ehrgeiz, als uns aus dieser Situation zu befreien, die objektiv gesehen für alle sehr schwierig ist“, sagte Lecornu im Pariser Vorort L’Haÿ-les-Roses am Samstag. „Und dann helfen mir entweder die politischen Kräfte dabei und wir arbeiten zusammen – oder sie tun es nicht.“

Der fünfte und letzte Akt

Jetzt läuft der fünfte und vielleicht letzte Akt. Wohlgemerkt ohne Macron: Der Staatschef fliegt, nachdem er seinem Land einen neuen Premier hinterlassen hatte, nach Ägypten, um das Friedensabkommen im Nahen Osten zu „unterstützen“, wie das Präsidialamt verlauten ließ.

Jetzt ist das Lustspiel aus; für Lecornu begann am Sonntag der bittere Ernst: Er musste zeitgleich eine Regierung bilden und den Staatshaushalt 2026 für Montag finalisieren. Vielleicht wäre er auch lieber nach Scharm El-Scheich gereist. Zumal Konservativenchef Bruno Retailleau mitteilte, seine Partei werde der Mitte-Regierung keine Minister mehr zur Verfügung stellen. Die kleine Zentrumspartei UDI auch nicht.

Lecornu wird wohl auch parteilose Spitzenbeamte ernennen müssen – etwa Laurent Nuñez als Innenminister. Das befeuert Gerüchte, Lecornu habe seine neuerliche Berufung nur dem Umstand zu verdanken, dass Macron keinen Besseren gefunden habe. Der durch nichts aus der Ruhe zu bringende Premier erklärte am Wochenende nur, er fühle sich gegenüber dem Präsidenten „loyal“, aber auch „frei“. Notfalls, so gab er an, „werde ich wieder abtreten“.

Misstrauensantrag angekündigt

Oder abgetreten: Das rechte Rassemblement National (RN), die Grünen, die Unbeugsamen (LFI) und die Kommunisten haben bereits einen Misstrauensantrag gegen die – erst im Embryonalstadium existierende – Regierung angekündigt. Die Radiostation RTL rechnet mit dem Antrag noch in dieser Woche.

Lecornus Team gleicht damit eher einem Himmelfahrtskommando als einer Regierung. Die Atmosphäre in Paris ist äußerst angespannt. Alle wissen, was Frankreich blüht, wenn Emmanuel Macron seinen siebten Premier verliert: Neuwahlen.

Andere Optionen als die Ansetzung vorgezogener Parlamentswahlen hätte Macron kaum mehr. Eine weitere Regierungsbildung ginge wohl nicht mehr durch; und dass der Präsident den – bis in sein Lager gehörten – Rufen nach seinem Rücktritt folgen könnte, hat er schon explizit ausgeschlossen.

Le Pen soll bei Neuwahlen die größten Chancen haben

Neuwahlen haben auch ihre Tücken. Sie wären der erste Akt eines Trauerspiels, bei dem der Rechtspopulistin Marine Le Pen die größten Siegeschancen eingeräumt werden: In Umfragen kommt sie auf 36 Prozent der Stimmen, doppelt so viel wie die Konkurrenz. Erhielte sie im zweiten Wahlgang die Mehrheit der Sitze, müsste Macron sie mit der Regierungsbildung betrauen.

Verhindern könnte dies die Sozialistische Partei. Sie lässt es bewusst offen, ob sie den Misstrauensantrag gegen Lecornu mittragen würde. Tut sie es, käme der Antrag arithmetisch auf eine Mehrheit von 335 Stimmen in der 577-köpfigen Nationalversammlung.

Sozialistenchef Olivier Faure tönt aber an, seine 69 Abgeordnete könnten sich der Stimme enthalten, sodass keine Mehrheit gegen Lecornu zustande käme. Der Preis ist hoch: Lecornu müsste Macrons umstrittene, seit Jahren heiß umkämpfte Rentenreform, die das Pensionierungsalter stufenweise von 62 auf 64 Jahre erhöht, laut Faure „suspendieren“. Eine Suspendierung wäre aber bei den heutigen Mehrheitsverhältnissen im Parlament gleichbedeutend mit dem Ende der Reform.

Lecornu hat durchblicken lassen, dass er bereit wäre, die Reform bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen von 2027 zu verschieben. Die Erhöhung des Rentenalters um jährlich neun Monate würde um anderthalb Jahre verzögert. Aber nur die Erhöhung, und dies nur für eine befristete Zeit. Den Sozialisten ist das zu wenig; sie wollen laut Pariser Medien „den Skalp“ der Macron’schen Schlüsselreform. Wenn nicht den Skalp des Präsidenten: Einige Sozialisten wollen gar nicht erst über die Rentenreform verhandeln – sie sind entschlossen, den Premier auf jeden Fall zu stürzen. Und wenn sie Lecornu schlagen, meinen sie natürlich Macron.

Streit um die Rentenreform

Zur Angst vor einer Regierung Le Pen kommen in Frankreich die Sorgen vor den bereits spürbaren Wirtschaftsschäden. Lecornu beziffert die Kosten der Suspendierung der Rentenreform bis Mitte 2027 auf drei Milliarden Euro. Die Kosten der ganzen Regierungskrise veranschlagt er auf 15 Milliarden. Denn zum einen konsumieren die Franzosen aus Angst vor der Zukunft weniger als bisher, zum anderen warten die Unternehmen mit dem Investieren zu.

Lecornu sagte, er könne das ursprüngliche Budgetdefizit von 4,6 Prozent selber nicht einhalten. Die Linke will noch weniger sparen. Dies führt zu einem sehr paradoxen Umstand: Die Staatsschuld und die akute Finanzkrise Frankreichs, die dem Regierungschaos in Paris zugrunde liegen, dürften sich nicht etwa auflösen, sondern vertiefen. Das bestätigt die Erkenntnis, dass Frankreich, so sehr es sich auch abmüht, schlicht unfähig ist, eine ausgeglichene Jahresrechnung zu präsentieren.