Der Besuch der alten Dame

Leiche im Keller: Italien schockiert über Rentenbetrug

Italien ist überaltert. Mehr als 13 Millionen Menschen beziehen Rente. Das verlockt manche Angehörige, über den Tod hinaus Geld zu kassieren.

Leiche im Keller: Italien schockiert über Rentenbetrug

Die angebliche Graziella Dall’Oglio geht mit ihrem Gehstock in der Hand in die Meldebehörde von Borgo Virgilio.

Von dpa/Markus Brauer

Am 29. Januar 1956 fand in Zürich eine Uraufführung statt, die zu einem Welterfolg avancieren sollte: der „Besuch der alten Dame“ eine „tragische Komödie“ in drei Akten des Schweizer Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt. Das Stück mit Therese Giehse in der weiblichen Hauptrolle wurde zu einem Welterfolg und brachte Autor die finanzielle Unabhängigkeit.

Besuch der alten Dame Graziella Dall’Oglio

So ähnlich muss auch Graziella Dall’Oglio gedacht haben, als sie kürzlich mit dem Gehstock in der Hand in die Meldebehörde von Borgo Virgilio, einer Gemeinde mit 15.000 Einwohnern in der italienischen Provinz Mantua stolzierte.

Stolzieren ist das richtige Wort, denn die alte Dame hatte sich mit ihren 85 Jahren schick gemacht. So wie man das früher nicht nur in Italien tat, bevor man aufs Amt ging. Ein Hauch von Make-up, die Haare frisch frisiert, Lack auf den Nägeln. Dazu Ohrringe, Absatzschuhe und Handtasche. Das Video einer Überwachungskamera zeigt, dass sie für eine 85-Jährige noch einen kräftigen Schritt hatte.

Die alte Dame war der Sohn

Doch es gab einen Haken an der Sache: Denn in Wirklichkeit war die alte Dame schon seit drei Jahre tot. Und die angebliche Frau, die auf der Meldebehörde einen neuen Personalausweis beantragen wollte, war auch gar keine.

Vielmehr handelte es sich um Graziella Dall’Oglios 57 Jahre alten Sohn, der sich Frauenkleider angezogen hatte, um weiterhin die Rente seiner 2022 verstorbenen Mutter kassieren zu können. Und ohne neuen Ausweis ging das nicht mehr. Die Leiche hatte der allein lebende Mann Erkenntnissen der Polizei zufolge zu Hause versteckt.

Szene wie in einer Travestiekomödie

Als der Sohn auf der Meldebehörde von einer stutzig gewordenen Angestellten enttarnt wurde, erlitt er einen plötzlich Schwächeanfall. Dabei stellte sich sogleich heraus, dass er eine Perücke trug. Jetzt ermittelt die Polizei wegen Betrugs, Täuschung und Verstoßes gegen die Bestattungspflicht. Der Fall aus der Gemeinde in der Nähe von Mantua sorgt zurzeit in Italien für viel Diskussionsstoff.

Nicht nur, weil das Passfoto, das von dem Mann in Frauenkleidern entstand, einigen Grund zur Heiterkeit bietet. Zwar besteht durchaus Ähnlichkeit zur verstorbenen Mutter, aber viele fühlen sich auch an Travestiekomödien wie „Tootsie“ oder „Mrs. Doubtfire“ erinnert.

Vor allem aber ist systematischer Betrug, um die Renten verstorbener Angehöriger zu beziehen, in dem chronisch überalterten Land wie Italien längst kein Einzelfall mehr. Mit 48,7 Jahren liegt das Durchschnittsalter so hoch wie in keinem anderen Land der EU. Von den knapp 59 Millionen Italienern sind mehr als 13,2 Millionen Rentner.

Rente von verstorbener Verwandter über 20 Jahre hinweg

In den vergangenen Jahren flogen immer wieder Personen auf, die das Ableben naher Verwandter nie gemeldet hatten:

Im Großraum Neapel etwa bezog eine Frau fast sieben Jahre lang die Rente ihrer verstorbenen Mutter, alles in allem etwa 80.000 Euro.

In Tarent, noch weiter im Süden, ließ sich eine Frau 20 Jahre lang die Pension ihrer toten Nichte auszahlen. Als das doch irgendwann auffiel, war sie auch schon 73.

In Mailand kassierte ein 50-Jähriger jeden Monat 1700 Euro für seine tote Mutter, die er im Schlafzimmer eingemauert hatte.

Andere Verstorbene waren in Kellern, Gärten und selbst gezimmerten Särgen versteckt oder auch tiefgefroren in der Kühltruhe.

In Borgo Virgilio lehnte die tote alte Dame nach italienischen Medienberichten im Waschraum mumifiziert an der Wand. Ihr Sohn, ein ausgebildeter Pfleger, inzwischen arbeitslos, hatte seine Medizinkenntnisse genutzt, um den Leichnam zu präparieren.

Wissenschaftler zweifelt an Statistik über hohe Lebenserwartung

Eine zuverlässige Statistik, wie viele solche Delikte landesweit aufgedeckt wurden, gibt es nicht. In Italien existieren verschiedene Strafverfolgungsbehörden, die zudem dezentral arbeiten. Vermutet wird, dass die Zahl in die Tausende geht. Systematische Kontrollen gibt es keine.

Zudem werden die Datenbanken von Rentenkassen und Sterberegister manchmal erst mit großer Verspätung abgeglichen. Der Wissenschaftler Saul Newman von der Universität Oxford meint deshalb, dass Italiens vermeintlich hohe Lebenserwartung von aktuell 84,1 Jahren in Wahrheit gar nicht so hoch ist.

Vor allem in ländlichen Regionen, wo die Leute keine unmittelbaren Nachbarn haben, reizt das System offensichtlich zu Betrug. So war das auch in Borgo Virgilio: Niemand wunderte sich, dass die Rentnerin, die mit ihrem Sohn allein wohnte, nicht mehr zu sehen war.

Graziella Dall’Oglio starb eines natürlichen Todes

In ihrem Namen reichte er die vergangenen Jahre stets ordentlich eine Steuererklärung ein – zuletzt über 53.000 Euro, was sich auch aus der Hinterbliebenenrente des verstorbenen Vaters und Erträgen aus Immobilienvermögen zusammensetzte. Die Unterschrift fälschte er.

Auf dem Amt fiel der Mann in Frauenkleidern dann auch wegen seiner Hände auf: verhältnismäßig groß und auch zu jung für eine 85-Jährige. Die zuständige Beamtin bestellte ihn für den Tag danach unter einem Vorwand abermals ein. Dann wartete die Polizei. Die Ermittler gaben sicherheitshalber eine Obduktion in Auftrag: Seine Mutter starb eines natürlichen Todes.

Deutschland auf dem Weg zu „italienischen“ Verhältnissen

In Deutschland, werden Sie jetzt denken, ist so etwas undenkbar. Falsch gedacht! Längst ist das einst so adrett-korrekte Land zwischen Alpen und Nordsee, zwischen Rhein und Oder auf dem Weg zu „italienischen“ Verhältnissen. Immer wieder werden Leichen vergraben, zerstückelt oder eingemauert, um an das Altersgeld der Toten zu kommen. Hier einige Beispiele aus der Asservatenkammer des teutonischen Rentenbetrugs:

Berlin, Mai 2019: Der Bundesgerichtshof (BGH) verwirft die Revision eines Angeklagten gegen eine lebenslange Freiheitsstrafe als unbegründet. Der Berliner Trödelhändler war im April 2018 wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt worden, weil er laut Urteil einen Rentner erschossen und zerstückelt jahrelang in einer Tiefkühltruhe verborgen hatte, um die Rente des alten Mannes von monatlich 2000 Euro zu kassieren. Im Namen des Opfers schickte der Mörder zudem Schreiben an das Finanzamt und die Hausverwaltung.

Berlin, September 2019: Die Polizei ermittelt gegen einen 57-Jährigen wegen mutmaßlichen Leistungsbetrugs. Der Berliner soll seine tote Mutter mehr als zwei Jahre in einem Keller versteckt habe, um deren Rente zu kassieren. Die 85-Jährige war nach polizeichlichen Erkenntnissen im Frühjahr 2017 eines natürlichen Todes gestorben. Der Sohn hatte sie aber nicht bestatten lassen, sondern in einem selbst gebauten Sarg in einen Kellerverschlag des Mietshauses in Pankow geschafft. Dies sei, „so makaber das klingen mag“, lediglich eine Ordnungswidrigkeit, erklärt eine Behördensprecherin. In Deutschland müssten Tote bestattet werden.

Magdeburg, August 2019: Eine Haushaltshilfe gesteht vor Gericht, dass sie ihren 81-jährigen Nachbarn mit einem Küchenmesser und Beil getötet und dann jahrelang seine Rente kassierte. Sie habe dann im Keller ein Loch gegraben und schließlich die Leiche verbuddelt. Dass der sehr zurückgezogen lebende Mann tot war, bemerkte im Ort Rieder im Harz niemand. Auch die Kinder nicht, die nach Aussage der 62-Jährigen keinen Kontakt zu ihrem Vater hatten. So kassierte die Haushaltshilfe über viele Jahre dessen Rente – insgesamt fast 105.000 Euro. Erst 2016 wurde der Fall bekannt: Laut Anklage war Mitarbeitern der Krankenkasse des Mannes aufgefallen, dass er nie zum Arzt ging. Ungewöhnlich für einen vermeintlich 96-Jährigen.

Berlin, September 2014: Zwei Spaziergänger finden am Brunsbütteler Damm in Berlin eine stark verweste Leiche in einem schwarzen Rollkoffer. Die Mordkommission ermittelt und findet folgendes heraus: Bei dem Toten handelt es sich um einen 72-jährigen Rentner, der im Sommer 2013 eines natürlichen Todes gestorben war. Sein Sohn hatte die Leiche in dem Koffer verstaut und an dem Fundort am Güterbahnhof versteckt, um weiterhin die Rente seines Vaters zu kassieren. Bis einschließlich Juni 2015 gingen die Zahlungen auf seinem Konto ein.

Landau, März 2014: Eine Frau aus Landau in Rheinland-Pfalz versteckt die Leiche ihrer Mutter jahrelang im Garten und kassiert heimlich deren Rente. Die damals 56-jährigen muss sich wegen Betruges vor Gericht verantworten. Im Prozess erklärt sie, dass sie ihre tote Mutter im Februar 2010 gefunden habe. Sie sei damals nicht in der Lage gewesen, sich um die ordnungsgemäße Bestattung zu kümmern. Nach einiger Zeit habe sie die Leiche im Garten abgelegt.

Wolfsburg, November 2013: Um weiter Rente und Pflegegeld kassieren zu können, begräbt ein damals 67-jähriger Wolfsburger seine tote Mutter im Wald nahe Helmstedt. Zunächst habe er den Tod der 89-Jährigen vertuscht, dann habe er das Geld mehr als anderthalb Jahre lang eingestrichen.

Berlin, August 2013: Ein damals 39-Jähriger Berliner steht wegen Mordverdachts vor Gericht. Er hat fast zwei Jahre lang die Leiche seiner Mutter in einem Wohnwagen versteckt und ihre Rente kassiert. Von Mai 2011 bis Anfang 2013 kassierte er die Rente der 76-jährigen Frau weiter. „Ich wusste nicht, wovon ich leben sollte.“ Er habe zudem Schulden begleichen müssen, die er und seine Mutter angehäuft hätten. Auch habe er Geld für seine zehn Katzen gebraucht. „Das hätte ich von Hartz IV nicht bezahlen können“, sagt der Arbeitslose aus Spandau.

Saarlouis, März 2011: Über mehrere Jahre hat ein 46 Jahre alter Mann aus Saarlouis mit seiner toten Mutter zusammengewohnt und ihre Leiche versteckt. Polizisten fanden den bereits skelettierten Leichnam der Frau am Freitag in einem Fernsehsessel sitzend. Der Mann hatte kein Einkommen und lebte offenbar jahrelang von der Rente seiner Mutter.