„Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger...“

Die Stadt Winnenden hat vor Kurzem einen Leitfaden für geschlechtergerechte Sprache herausgebracht. Er soll die Kommunikation der Verwaltung nach außen vereinheitlichen sowie alle in der Ansprache einbeziehen. Andere Kommunen haben bereits Interesse angemeldet.

„Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger...“

Mit dem Genderstern können viele Deutsche nichts anfangen. Winnenden verfolgt daher ein anderes Konzept. Foto: AdobeStock/Andreas Nägeli

Von Melanie Maier

Rems-Murr. Geschlechtergerechte Sprache ist ein Reizthema. Vor allem den Einsatz von Gendersternchen, inklusiven Doppelpunkten oder großgeschriebenem Binnen-I (LehrerInnen) scheinen manche Menschen geradezu als Provokation zu empfinden. Auf sozialen Medien wie Facebook und Twitter wettern viele gegen den von ihnen so empfundenen „Gender-Gaga-Quatsch“. Auch der gemeinnützige Verein Deutsche Sprache spricht von „Gender-Unfug“ und ruft zum Widerstand gegen die angeblich „zerstörerischen Eingriffe in die deutsche Sprache“ auf. Das Rechtschreibwörterbuch Duden dagegen, das auf der Grundlage der aktuellen amtlichen Rechtschreibregeln des am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim angesiedelten Rats für deutsche Rechtschreibung erstellt wird, widmet sich in seiner neuesten Auflage auf gleich drei Seiten der Frage, wie man richtig gendert – auch wenn der Redaktion nach eigener Aussage schon vorher bewusst war, dass sie dafür nicht nur Zuspruch bekommen würde.

Nur 35 Prozent sind für den Einsatzder geschlechtergerechten Sprache

65 Prozent der Deutschen halten einer Befragung des Umfrageinstituts Infratest Dimap zufolge, die von der Wochenzeitung „Welt am Sonntag“ in Auftrag gegeben wurde, nichts von einer stärkeren Berücksichtigung unterschiedlicher Geschlechter in der Sprache. Nur 35 Prozent äußerten sich dafür. Auch die Hälfte der Frauen (52 Prozent) tut sich nach Angaben von Infratest damit bislang schwer. Offener gegenüber einer genderneutralen Sprache zeigten sich die jüngeren Bürgerinnen und Bürger sowie Personen mit formal höherer Schulbildung, von denen jeweils etwa jeder Zweite zu einem positiven Urteil gelangte.

Aller Skepsis zum Trotz entschließen sich immer mehr Städte und Kommunen dazu, die geschlechtergerechte Sprache in ihrer Kommunikation zu verwenden – sowohl nach außen als auch innerhalb der Verwaltung. Dazu gehören beispielsweise Hannover, Freiburg und Frankfurt am Main. Auch der Deutsche Bundestag toleriert seit März dieses Jahres geschlechtergerechte Formulierungen in Anträgen, Eheschließungsanträgen und Begründungen von Gesetzesentwürfen. Im Rems-Murr-Kreis hat Winnenden als erste Stadt einen Leitfaden zur geschlechtergerechten Sprache entwickelt. Der Vorschlag dazu sei von Oberbürgermeister Hartmut Holzwarth gekommen, berichtet Emely Rehberger. Die Pressesprecherin hat den Leitfaden zusammen mit der Hauptamtsleiterin Christina Riedl erstellt.

Der Grund für die Neuerung: „Uns ist aufgefallen, dass wir als Stadtverwaltung nicht einheitlich nach außen kommunizieren“, erklärt Rehberger. Die Umsetzung des Vorhabens habe nicht lange gedauert, sagt sie. „Von der Idee bis zum ersten Entwurf waren es zwei oder drei Tage.“ Das lag auch daran, dass Hauptamtsleiterin Riedl und Rehberger – die sich selbst als „totale Verfechterin“ bezeichnet – aus Überzeugung hinter dem Projekt standen. Die beiden Frauen informierten sich für die Erstellung unter anderem bei der Gesellschaft für deutsche Sprache sowie bei Universitäten, die schon über einen Leitfaden verfügen.

Der Leitfaden regelt möglichst geschlechterneutrale Bezeichnungen

Da es sich um ein Geschäft der laufenden Verwaltung handelt, war die Zustimmung der Stadträte prinzipiell nicht notwendig. Die Verwaltung legte den Leitfaden dennoch im Ältestenrat und im Verwaltungsausschuss zur Kenntnis vor. In dem Antrag heißt es zur Begründung unter anderem: „Die Stadtverwaltung Winnenden und ihre Einrichtungen handeln stets im Sinne aller Bürgerinnen und Bürger. (...) Dies sollte auch durch die von den Mitarbeitenden verwendete Sprache zum Ausdruck kommen.“

Konkret regelt der Leitfaden zum Beispiel, dass grundsätzlich möglichst eine geschlechtsneutrale Bezeichnung verwendet werden muss – etwa Mitarbeitende statt Mitarbeiter. Fehle die geschlechtsneutrale Bezeichnung, müssen beide Geschlechter angesprochen werden (Beamtinnen und Beamte). Um die Akzeptanz zu erhöhen, wurde auf Sonderzeichen wie Genderstern oder Doppelpunkt verzichtet. Während nicht alle Stadträte von der Umstellung begeistert waren, fiel die Kritik doch überschaubar aus, sagt Rehberger. Andere begrüßten den Leitfaden dagegen sehr.

Mittlerweile haben die Pressesprecherin bereits die ersten Anfragen anderer Städte und Gemeinden aus dem Kreis erreicht, die Interesse an dem Leitfaden haben, darunter Auenwald und Weissach im Tal. Dort sei die genderneutrale Sprache eigentlich schon immer, wo möglich, verwendet worden, sagt Hauptamtsleiterin Madelaine Fischer.

Keine Rolle spielt die Erstellung eines solchen Leitfadens bisher unter anderem in Allmersbach im Tal, Althütte, Burgstetten, Kirchberg an der Murr und Spiegelberg. Die Stadtverwaltungen von Backnang und Murrhardt beobachten nach eigener Aussage die Entwicklung in Winnenden und anderswo mit Interesse, haben jedoch keinen Leitfaden in Planung. Insgesamt setzen die Verwaltungen (noch?) auf schnelle, leicht umsetzbare Lösungen. „Bei anlassbezogenem Bedarf werden wir gewiss einen praktischen Lösungsansatz finden – auch ohne Leitfaden“, schreibt etwa Christoph Jäger, Bürgermeister in Großerlach, per E-Mail.

Pressesprecherin Emely Rehberger freut sich in der Zwischenzeit über jede weitere Anfrage. „Ich fände es super, wenn das noch mehr Stadtverwaltungen aufgreifen würden“, sagt sie und betont: „Sprache steuert unsere Wahrnehmung.“

Kommentar
Warum denn nicht?

Von Melanie Maier

Warum eigentlich nicht gendern? Ehrlich gesagt: Die Argumente der Gender-Gegner langweilen mich mittlerweile einfach nur noch. „Sieht unschön aus“, gähn. „Irritiert als Pause im Sprachfluss“, gähn. „Braucht kein Mensch“, gähn. „Wir haben wichtigere Probleme“, gähn. Stimmt schon, das alles. Aber: Geschlechtergerecht zu formulieren kostet weder mehr Zeit noch Geld, bezieht alle mit ein und ist einfach nur zeitgemäß.

Vielleicht haben Sie, lieber Leser (und an dieser Stelle spreche ich tatsächlich nur die Männer an), der sich nun fürchterlich über meine Worte aufregt, den Eindruck, dass es Formulierungen wie „Liebe Leserinnen und Leser“ nicht braucht – dass „Liebe Leser“ völlig ausreicht. Als Frau sage ich Ihnen: Tut es nicht. Sprache schafft Bewusstsein. Der Minimalaufwand sollte es uns wert sein.

m.maier@bkz.de