„Man muss bereit sein zu machen“

Das Interview: Landrat Richard Sigel spricht über den Umgang mit Krisen – von der Krankenhausmisere über Corona bis zum Klimawandel. Wichtig sei, Ziele zu haben, die über die Krise hinausgehen. Das stärkt die Motivation und das Durchhaltevermögen.

„Man muss bereit sein zu machen“

„Wir müssen alle Stellschrauben, auf die wir Einfluss haben, nutzen“: Richard Sigel. Foto: A. Becher

Von Bernhard Romanowski und Armin Fechter

Eine Krise jagt die nächste. Flüchtlingskrise, Coronakrise, das Krankenhausthema: Können Sie das Wort Krise noch hören?

Ich glaube, es geht uns allen so: Wir wünschen uns in die Normalität zurück, und wir haben von Corona und dieser Krise genug. Vielleicht hilft mir, dass ich aus dem Ausdauersport komme. Ich habe schon als kleiner Knirps in meiner Skizunft gelernt: „Und geht’s auch mal steil bergauf, wir geben niemals auf. Wir laufen immer bis zum Schluss...“ Das hilft in so einer Krise, durchzukommen, durchzuhalten. Und Ziele, die über die Krise hinausgehen, helfen auch, die Motivation aufrechtzuerhalten.

Nun kann man Corona aber nicht mit einem Biathlonwettbewerb vergleichen, das ist ja keine spaßige Angelegenheit.

Mit spaßig hat das auch gar nichts zu tun. Aber mit Durchhaltevermögen und damit, dass man über die Krise hinausblicken muss und nicht nur im Hier und Jetzt gefangen sein darf. Krise erlebt man ja zum einen im Beruflichen. Da haben viele von uns derzeit eine Daueranspannungssituation. Das bleibt nicht ohne Spuren. Zum anderen hat jeder auch ein privates Umfeld. Ich habe zwei kleine Kinder, die spüren die extrem hohe Arbeitsbelastung der Eltern. Und man merkt es auch an den Kindern, dass ihnen die Normalität in der Schule und im Kindergarten fehlt. Da hilft die Erfahrung aus dem Ausdauersport schon: Man weiß, manchmal ist es anstrengend, manchmal geht es den Berg hoch, es kommt auch mal eine Durststrecke, aber man schafft es am Ende bis ins Ziel.

Sie haben die Misere ums Krankenhaus als Aufgabe geerbt. Wo stehen wir heute?

Es hat sich gelohnt, dass wir gesagt haben: Wir schauen voraus, wir definieren Ziele und machen eine Medizinkonzeption, um am Ende auch am Ziel anzukommen. Wir haben Stück für Stück die Puzzleteile – ich will nicht sagen: die Scherben – zusammengekehrt. Ich bin ja fast zeitgleich mit dem neuen Geschäftsführer Marc Nickel gekommen. Und wir haben erst einmal alle an einen Tisch gebracht und nach und nach die Dinge geklärt.

Wie sind die Kliniken denn bislang durch die Coronakrise gekommen?

Sehr, sehr gut, behaupte ich. Wir haben ja entsprechend dem Medizinkonzept in die Kliniken investiert. Wir haben beispielsweise die Notaufnahme beider Kliniken komplett neu strukturiert, wir haben einen gemeinsamen Tresen mit der Notfallpraxis eingerichtet, wir haben zudem unsere Rettungsdienste verstärkt. Wir haben eine wirklich gute medizinische Versorgung im Rems-Murr-Kreis erreicht, auch was die Spezialisierungen betrifft. Wir haben jetzt auch in Schorndorf ein Herzkatheterlabor eingerichtet. In Winnenden bauen wir das Lungenzentrum auf. Möglicherweise wird ja Löwenstein keine dauerhafte Perspektive haben. In Sachen Labormedizin hat man beim Bau der Klinik in Winnenden leider gespart. In der Krise haben wir gelernt, warum das doch sinnvoll ist, und wir haben jetzt einen Labormediziner eingestellt, der vom Robert-Bosch-Krankenhaus kommt. Wenn solche Topleute aus anderen Kliniken zu uns kommen, dann scheinen wir vieles richtig zu machen. Und wir investieren auch noch zehn Millionen Euro in 100 neue Mitarbeiterwohnungen und damit in die Attraktivität der Rems-Murr-Kliniken als Arbeitgeber.

Ist das Ziel eines Abmangels von jährlich maximal fünf bis zehn Millionen Euro mit der Coronakrise nicht in weite Ferne gerückt?

Ich habe immer gesagt: Mit den Kliniken ist kein Geld zu verdienen. Den Begriff „schwarze Null“ habe ich daher aus dem Wortschatz der Geschäftsführung gestrichen, bis wir tatsächlich eine echte, eine betriebswirtschaftlich schwarze Null haben. Wir sind trotz Corona noch weitgehend im Plan und bauen in Winnenden derzeit eine Infektionsstation mit 72 Betten auf, angedockt an die Notaufnahme. Das wird helfen, bei rückläufigen Infektionszahlen schnell wieder mit elektiven Eingriffen beginnen und am Ende auch wirtschaftlich bleiben zu können. Im Sommer, als wir das mit den Verantwortlichen in den Ministerien diskutiert und gesagt haben, wir möchten jetzt die Weichen stellen, damit wir im Winter gut vorbereitet sind, hat dies einige Überzeugungskraft gekostet. Ich will nicht sagen, dass es mich freut, dass wir recht hatten. Aber es zeigt, dass wir die Dinge rechtzeitig angegangen sind.

Das Krankenhaus war ein hausgemachtes Problem. Corona- und Flüchtlingskrise kamen von außen. Wo liegt der Unterschied?

Es hat sicher geholfen, wenn man eine Flüchtlingskrise, die praktisch mit meinem Amtsantritt am Tag eins angefangen hat, hinter sich gebracht hat. Das gibt eine gewisse Gelassenheit: Man hat sozusagen schon mal eine Krise zumindest überstanden. Ob man sie gut oder schlecht gemanagt hat, das zu bewerten überlasse ich anderen. Der große Unterschied ist: Die Flüchtlingskrise kam quasi über Nacht mit der Ankündigung der Bundeskanzlerin, wir machen die Grenzen auf. Ab da sind die Flüchtlingszahlen „explodiert“. Das Thema Corona ist eher unsichtbar, langsam, schleichend auf uns zugekommen. Trotzdem waren wir aber eigentlich viel besser vorbereitet, weil wir seit Jahren in die Kliniken investieren. Dort haben wir schon funktionierende Strukturen, die wir dann noch mit Blick auf die besondere Situation scharf gestellt haben. Wichtig war in beiden Fällen: Man muss schnell reagieren, entscheidungsstark mit den Dingen umgehen und bereit sein zu machen. Mit der Firma Lochmann in Backnang haben wir zum Beispiel schon Masken beschafft und alle Kommunen im Kreis damit versorgt, als manche noch darüber gelächelt haben.

Gibt es hier auch Entscheidungen, die Sie heute als Fehler einstufen?

Wir sind noch mitten in der Pandemie, da fällt es schwer, schon Bilanz zu ziehen. Aber fest steht, wir machen im Rems-Murr-Kreis manches anders als andere Landkreise. Wir haben zum Beispiel sehr frühzeitig Strukturen geschaffen. Stichwort Kontaktpersonennachverfolgung – das stemmen wir bei uns gemeinsam mit den Städten und Gemeinden trotz hoher Inzidenzwerte. Da ächzen manche. Wir ächzen im Gesundheitsamt auch, aber landauf, landab ächzen die Gesundheitsämter nicht nur, sondern viele haben es ohne Bundeswehr gar nicht mehr geschafft. Wir haben es noch immer relativ gut im Griff. Und unser Modell, bei dem wir die Kommunen bei Bedarf personell unterstützen, hat inzwischen sogar das Land Salzburg in Österreich übernommen.

Bei der Coronakrise läuft es ja wohl auch so wie bei der Flüchtlingskrise, dass der Landkreis personell und finanziell gebeutelt wird. Ist denn abzusehen, wie das ausgehen wird?

Das Land ist seinen Verpflichtungen bei der Flüchtlingskrise weitgehend nachgekommen und hat uns die Ausgaben nachträglich erstattet. Kopfzerbrechen bereitet uns aber, dass wir bisher über die sogenannte nachgelagerte Spitzabrechnung die tatsächlichen Kosten abrechnen konnten. Das Land denkt inzwischen aber darüber nach, wieder zu Pauschalen zurückzukehren. Nun haben wir hier im Ballungsraum Stuttgart unheimlich hohe Immobilienpreise und folglich extrem hohe Kosten für Wohnraum – anders als etwa in ländlicheren Landkreisen wie Hohenlohe oder Ravensburg. Nur noch Pauschalen und nicht mehr die tatsächlichen Kosten zu bekommen, das ist ein Risiko. Bei Corona läuft es ab wie in der Flüchtlingskrise, abgerechnet wird vielfach im Nachgang. Bei der Einrichtung des Corona-Schnelltestzentrums in Winnenden sind wir beispielsweise komplett in Vorleistung gegangen. So ist es aktuell auch bei den Kreisimpfzentren. Das Land hat aber angekündigt, dass es die Kosten vollständig übernimmt. Darauf verlasse ich mich, auch wenn die Politik manchmal vergesslich ist: Man verspricht allerhand, wir wickeln es ab, und nachher, wenn es darum geht, gibt es etwas zähe Diskussionen. Ich hoffe, das erleben wir hier nicht so.

Zeichnen sich schon zusätzliche Kosten ab?

Wo wir einen Kostenpunkt haben, das ist der öffentliche Personennahverkehr. Wir haben aber einen Rettungsschirm für unsere Busverkehre vorbereitet. Da könnte bei uns ein Millionenbetrag einschlagen. Und wir haben ein Thema bei Einrichtungen der Behindertenhilfe, die wegen vieler Coronafälle einen erheblichen Aufwand in der Betreuung haben und daher eine Rechnung aufmachen. Auch insoweit haben wir Rückstellungen gebildet.

Der Landkreis hat sich den Klimaschutz auf die Fahnen geschrieben. Ziel ist es, klimaneutral zu werden. Wie soll das gehen?

Man hatte dieses Ziel schon beim ersten Klimaschutzhandlungsprogramm definiert, allerdings auf 2050. Dies war aus meiner heutigen Sicht nicht besonders ambitioniert und zudem unkonkret. Deshalb habe ich vorgeschlagen, wir sollten uns anstrengen, dieses Ziel als Kreisverwaltung zumindest mit unseren Liegenschaften früher zu erreichen, und 2030 anstreben. Wir sollten als Landkreis als Vorbild vorangehen. Als Kreisverwaltung wollen wir dort, wo wir originär zuständig sind, versuchen, dieses Ziel zu erreichen. Aber als Kreisverwaltung machen wir nur einen Bruchteil der CO2-Bilanz des Landkreises aus. Deshalb kann ich mit Blick auf die Klimaneutralität nur appellieren: Klimaschutz geht alle an, alle müssen mithelfen und mitmachen.

Klimaneutral bauen ist eine Sache, Bestandsgebäude sanieren, die dem Klimaschutz nicht genügen und vielleicht unter Denkmalschutz stehen, eine andere. Ist Klimaneutralität da überhaupt zu schaffen?

Wir müssen alle Stellschrauben, auf die wir als Landkreis Einfluss haben, nutzen. Dazu gehört beispielsweise auch die Abfallwirtschaft. Wir haben riesengroße Deponien, auf denen wir teils schon riesengroße Fotovoltaikanlagen betreiben oder in Zukunft noch betreiben könnten, wir verwerten das Deponiegas, wir haben die Biovergärungsanlage in Neuschöntal. Da ist eine Gesamtbetrachtung wichtig, das muss in die Klimabilanz der Landkreisverwaltung einfließen. Dann kann ich auch ein denkmalgeschütztes Gebäude wie die Villa Kaess in Backnang sachgerecht isolieren und ein ordentliches Dach draufmachen, aber muss nicht meinen, ich müsste draußen einen halben Meter Styropor draufkleben. Experten von der Hochschule Esslingen machen genau diese Gesamtschau für uns als Landkreis und analysieren, was wir tun und welche Maßnahmen wir ergreifen sollten.

Wo sehen Sie dabei Berührungspunkte mit der Fridays-for-Future-Bewegung?

Nachdem drei Viertel meiner Familie auch einen schwedischen Pass hat und Greta Thunberg aus Schweden kommt, haben wir natürlich mit besonderem Interesse verfolgt, wie sich das entwickelt hat, aber das ist der private Berührungspunkt. Unser aktuelles Klimaschutzhandlungsprogramm im Kreis heißt „Klimaschutz zum Mitmachen“ und sollte mit diesem Motto schon vor den Freitagsdemos für Aktivitäten sorgen. Dafür wurden wir jetzt auf Bundesebene ausgezeichnet. Insofern haben wir eine Schnittstelle zu der Bewegung. Das Besondere ist ein Budget, mit dem wir – und da ist ein sozialer Gerechtigkeitsaspekt mit drin – Projekte unterstützen, die in der Dritten Welt Positives bewirken. Wir haben auch die kreisweite Klimawoche unterstützt. Und es gilt: Wir müssen viele, viele kleine Schritte machen und die Menschen für Klimaschutz motivieren.

Wie wollen Sie denn die Menschen im Landkreis insgesamt motivieren?

Wir versuchen, Vorbild zu sein, und gehen beispielsweise über den Instagram-Account des Jugendamts gezielter auf die junge Zielgruppe zu. Und wir bieten viele andere Programme zum Mitmachen an, etwa Stadtradeln und Bike+Work. Es machen da inzwischen ganz viele mit, und auch mit dem Thema Radwege insgesamt erreichen wir die Leute sehr gut.

Nun gibt es Leute, die sagen, mit dem, was man im Rems-Murr-Kreis tut, werde man nicht die Welt retten. Was sagen Sie da?

Es gibt immer Leute, die sagen: Das reicht nicht – warum soll ich anfangen? Ich zähle mich eher zur Kategorie derer, die sagen: Einer muss halt zeigen, dass es auch anders geht. Wir als Verwaltung werden den Klimawandel nicht alleine aufhalten. Aber wir können zeigen, was man tun kann. Ich bin optimistisch.

Wie geht es 2021 weiter – was ist Ihr Motto? Stellen Sie sich auf eine neue Krise ein?

Wie schnell wir die Coronapandemie überwinden, das wissen wir leider nicht. Noch eine obendrauf müsste nicht unbedingt sein. Für mich zählt trotzdem, was kommt nach der Krise. Ich denke eher langfristig und gebe mir nicht jedes Jahr ein neues Motto. Ich bin für die Menschen hier im Kreis angetreten – Themen wie Digitalisierung, Klimaschutz, eine moderne Verwaltung, bezahlbaren Wohnraum, eine gute Infrastruktur, Straßen- und Radwegebau und natürlich die Kliniken will ich weiter voranbringen.

„Man muss bereit sein zu machen“

Beim Klinikum in Winnenden zieht der Landkreis eine Infektionsstation hoch. Foto: B. Büttner