Experten haben 50.000 Seiten Vernehmungsprotokolle, Gutachten und Anklageschriften untersucht. Was sind die häufigsten Motive für Tötungen an Frauen? Besitzdenken und Eifersucht. Die Kriminologen leiten Forderungen ab.
Demonstration gegen Femizide in Hamburg.
Von Markus Brauer/KNA
Evin (Name geändert) ist durch die Hölle gegangen. Seit ihrer Kindheit wurde sie von ihren Eltern ausgenutzt, erniedrigt, geschlagen. Ihr einziges Vergehen: Sie wurde als Frau geboren.
Die Kurdin, die in der Osttürkei aufwuchs, kam als Siebenjährige nach Deutschland. Familiäre Gewalt war für sie alltäglich. „Mein Vater und meine Mutter schlugen mich mit allem, was sie gerade in die Hand bekamen. Bei Kurden ist es normal, verprügelt zu werden, damit man den Eltern gehorcht.“
Die einzige „Schuld“: als Frau geboren zu sein
Evin gehorchte. Aus Angst machte sie alles, was ihr aufgetragen wurde. Sie passte auf ihre Geschwister auf, versorgte den Haushalt, las ihren Eltern jeden Wunsch von den Lippen ab. Es half nichts. „Je älter ich wurde, desto schlimmer wurde es.“ Sie wisse, was passiert, wenn sie die Familienehre beflecke, wurde ihr eingetrichtert. Von Geburt an sei es ihre Bestimmung gewesen, mit ihrem Cousin zwangsverheiratet zu werden.
Der Begriff der Ehre spielt vor allem in islamischen Kulturkreisen eine zentrale Rolle. Nach Aussage der Menschenrechtsorganisation Terre des Femmes hängt die Familienehre in stark patriarchalisch geprägten Gesellschaften vom richtigen Verhalten der weiblichen Clan-Mitglieder ab.
Frauen werden als Besitz des Mannes gesehen. Verstößt die Tochter gegen die herrschenden Normen, ist die ganze Ehre der Familie und damit ihr öffentliches Ansehen beschädigt.
„Es war für mich normal, ständig eingesperrt zu sein und nichts zu dürfen“
Auch Zora (Name geändert) litt unter der ständigen Kontrolle und Willkür zu Hause. Sie gehört zur Volksgruppe der Jesiden, einer kurdischen Religionsgemeinschaft, die über den ganzen Nahen und Mittleren Osten verstreut lebt. Anfang der 1980er Jahre kam sie mit ihrer Familie aus Pakistan nach Deutschland.
Man kann nur als Jeside geboren werden. Grundsätzlich bedeutet die Heirat eines Jesiden mit einem Andersgläubigen den Austritt aus der Religionsgemeinschaft und einen Verrat an der Familienehre.
„Es war für mich normal, ständig eingesperrt zu sein und nichts zu dürfen“, erzählt Zora. Sie lebt heute mit ihrem deutschen Ehemann in der Nähe von Bremen – weit weg von den erschütternden Grausamkeiten ihres Elternhauses.
Kindheit als Gefängnis erlebt
Doch die Peinigungen hat sie auch Jahre nach ihrer Flucht nicht vergessen. „Ich habe lange überlegt, ob ich überhaupt zum Interview komme. Ich hatte Angst, dass es ein Trick von meinem Vater sein könnte, um mich zurückzuholen.“
Zora erlebte ihre Kindheit als Gefängnis. Sie durfte keine deutschen Freundinnen, geschweige Jungen treffen, nicht ohne Aufsicht rausgehen. Die Schule war der einzige Ort, wo sie begrenzt Freiraum hatte und sich Lehrern anvertrauen konnte.
„Für meine Eltern war ich eine billige Arbeitskraft.“ Mit zwölf eskalierte die Gewalt. „Eines Tages kam mein Vater mit einem Spatenstiel nach Hause. Während meine Mutter am Küchentisch saß, brach er mir die Hand.“
Zwangsverheiratung angedroht
Wie vielen Migrantinnen wurde auch Zora angedroht, zwangsverheiratet zu werden. Onkeln und Tanten redeten auf die junge Frau ein, dass sie Schlimmes zu erwarten hätte, wenn sie sich nicht dem Familienwillen unterwerfe.
„Meine Mutter erzählte mir, wie es Frauen ergeht, welche die Familienehre verletzen. Immer wieder haben mir meine Eltern mit Verstümmelung und Mord gedroht. Eines Abends kam ein Onkel zu mir ins Zimmer und hielt mir eine Pistole an den Kopf.“
Als sie 20 Jahre alt war, stellte Zora ihren Cousin und Ehemann in spe zur Rede. Dieser erklärte ihr, dass er seine Freundin behalten und sie gleichzeitig als Ehefrau haben wolle. „Nach dem Gespräch war mir klar: Ich muss da raus.“
Recht zur Verteidigung der Ehre
Frauen wie Evin und Zora sind eher die Ausnahme. Nur wenige können sich aus ihrem gewalttätigen Umfeld befreien. Die meisten fügen sich in das verordnete Leben, weil sie für sich keinen anderen Ausweg sehen.
Diesem Denken zufolge hat der Familienclan das Recht, sich zur Verteidigung der Ehre jederzeit in das Leben der Frauen einzumischen. Die Ehre wird auf diese Weise zum Instrument totaler Kontrolle, Denunziation und Machtausübung durch die Männer.
Mitunter reicht schon ein Gerücht, eine modische Frisur oder ein Widerwort, um die Familienehre zu verletzen. Vätern, Brüdern und Onkeln obliegt die Aufgabe, sie zu bewahren. Gelingt das nicht, können sie die Familienehre nur durch die Ermordung der Tochter und Schwester wiederherstellen.
Selbst hohe Haftstrafen halten die potenziellen Täter nicht von ihrem Verbrechen ab. „Strafen schrecken niemanden ab“, ist Zora überzeugt. „Die Eltern sind stolz auf ihre Kinder, wenn sie die Familienehre wiederherstellen – sogar durch Mord.“
Vertrauen in ihre Familie hat sie verloren
In manchen Fällen werden „Ehrenmorde“ als Suizid oder Unfall getarnt. Frauen werden in ihre Heimatländer verschleppt, dort zwangsverheiratet oder getötet. Auch Männer können zu Opfern werden,wenn sie sich offen zu ihrer Homosexualität bekennen, Ehebrecher sind, eine Zwangsheirat oder einen sogenannten Ehrenmord verweigern.
Auch in Evins Familie stand der Ehrbegriff ganz im Mittelpunkt. Dass die Gewalt nichts mit Ehre, aber viel mit Unterdrückung zu tun hat, wurde ihr erst langsam klar. Kurz vor ihrem 19. Geburtstag nahm sie allen Mut zusammen und floh in ein Frauenhaus.
Äußerlich ruhig berichtet die Kurdin, wie sie lange Zeit Angst davor hatte, dass ihr Vater und ihre Brüder sie finden und umbringen könnten. Das Vertrauen in ihre Familie hat sie verloren. „In guten Zeiten sind alle für dich da, in schlechten Zeiten sind alle gegen dich.“
Doie Täter: Eifer- und kontrollsüchtige Partner und Ex-Partner
Die meisten Femizide – also geschlechtsbezogene Tötungen von Frauen – werden laut Kriminologen von eifer- und kontrollsüchtigen Partnern oder Ex-Partnern verübt. „Der Anlass für diese Taten war überwiegend, dass die Frau sich trennen wollte, schon getrennt hatte oder vermeintlich untreu war oder der Täter dies befürchtete“, sagt Sabine Maier vom Institut für Kriminologie der Universität Tübingen.
In zwei Dritteln der Fälle könne man bereits vor der Tötung von einem „systematischen Gewalt- und Kontrollverhalten der Täter“ sprechen. Zu Tötungen komme es schließlich, wenn Männern klar werde, „dass sie ihre Macht- und Kontrollansprüche nicht mehr weiter durchsetzen können: Sie fühlen sich in ihrer Männlichkeit gekränkt und wollen gezielt Rache nehmen.“ Verletztem Besitzdenken folge „krasse Gewalt“.
Ein Femizid „jeden dritten Tag“
In der Studie heißt es, die Zahl der in der Polizeilichen Kriminalstatistik registrierten Tötungen an Frauen habe sich in den vergangenen zehn Jahren – entgegen der Aussage in vielen Medien – in Deutschland nicht erhöht. Maier sagte auf die Frage, ob man von einem Femizid pro Tag in Deutschland sprechen könne: „An jedem dritten Tag ist ein bisschen zutreffender.“
Das Deutsche Institut für Menschenrechte weist allerdings darauf hin, dass Femizide derzeit nur annäherungsweise in Zahlen erfasst werden können. In einer umfangreichen Analyse des Menschenrechtsinstituts, die nächste Woche vorgestellt werden soll, ist eine hohe Zahl enthalten: Demnach wurden 827 Frauen und Mädchen in Deutschland im Jahr 2024 Opfer eines versuchten oder vollzogenen Tötungsdelikts.
292 Fälle analysiert
Die jetzt vorgestellte Studie „Femizide in Deutschland“ wurde von Tübinger Wissenschaftlern und dem Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen erstellt. Sie untersuchten rund 50.000 Seiten Vernehmungsprotokolle, Sachverständigengutachten, Anklageschriften und Urteile zu 292 Fällen, die im Jahr 2017 als versuchte oder vollzogene Tötungen von Frauen in fünf Bundesländern in die Polizeiliche Kriminalstatistik eingingen: in Baden-Württemberg, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Sachsen und Nordrhein-Westfalen.
„197 der 292 analysierten Fälle erwiesen sich tatsächlich als versuchte oder vollendete Tötungsdelikte an Frauen“, heißt es in der Studie. Der Rest waren „Fehlerfassungen, Körperverletzungen oder falsche Verdächtigungen“.
Bei 133 der 197 Tötungsdelikte an Frauen handelte es sich aus Sicht der Kriminologen letztlich um Femizide.
Bei 64 Tötungen habe das Geschlecht der Frau „keine prägende Rolle für die Tat“ gespielt.
In allen Gesellschaftsschichten verbreitet
Die Opfer bei Partner-Femiziden im Zusammenhang mit Trennung oder Eifersucht waren im Durchschnitt 40 Jahre alt, die Täter 45 Jahre. „Die Taten fanden in allen Gesellschaftsschichten statt“, hieß es. Unter den Tätern waren beispielsweise ein Unternehmensberater und ein Erzieher. „Bei der Mehrzahl der Paare ging jedoch ein geringes Bildungsniveau mit einer ökonomisch eher angespannten Situation einher“, heißt es weiter in der Studie.
Eine „Überrepräsentation migrantischer Personen“ zeige sich „insbesondere in der Fallgruppe der Partner-Femizide im Zusammenhang mit Trennung oder Eifersucht“, betonten die Experten. Hier hatte „nur knapp über die Hälfte (51 Prozent) der Täter eine deutsche Staatsangehörigkeit“.
Die Taten seien oft „Ausdruck patriarchaler Strukturen“. Die Betroffenen hätten zudem meist kein soziales Auffangnetz, wenn es in der Beziehung krisele.
Medial große Aufmerksamkeit hätten Femizide bekommen, die als „Ehrenmorde“ bekannt wurden, schreiben die Autoren. „In der Realität ist diese Fallkonstellation selten und daher nur mit drei Fällen in der Studie vertreten“, erläutert der Kriminologe Wolfgang Stelly. „In zwei der drei Fälle brachte ein Vater seine minderjährige Tochter um. Die Konflikte eskalierten, als sich die Opfer in Männer verliebten, die nicht den Vorstellungen ihrer Väter entsprachen.“
„Sexistische Beweggründe“ als neues Mordmerkmal?
Mit Blick auf das Strafrecht empfehlen die Autoren eine juristische Reform der vorsätzlichen Tötungsdelikte, bei der auch „sexistische Beweggründe“ als Mordmerkmal berücksichtigt werden könnten.
Um die Forschung zu Femiziden zu verstetigen, wird zudem eine standardisierte, statistische Erfassung der Tötungsdelikte gefordert - ein „German Homicide Monitor“ nach dem Vorbild des „European Homicide Monitors“.