Die EU sucht Wege aus der Krise. Dabei wird an vielen kleinen Schrauben gedreht, notwendig wären aber grundlegende Reformen, kommentiert unser Korrespondent Knut Krohn.
Der deutsche Kanzler Friedrich Merz wirbt in Brüssel für den Bürokratieabbau. Um Europa wieder in Schwung zu bringen, ist das allerdings zu wenig.
Von Knut Krohn
Der Brüsseler Gipfel sendet viele Signale an die Welt: an die Ukraine, an Russland, die USA, China, aber auch an die europäischen Industrieunternehmen. Die Staats- und Regierungschefs beweisen einen ehrgeizigen politischen Gestaltungswillen. Das Problem ist: Wirklich entschieden wird wenig. Darüber kann auch das 19. Paket der Russlandsanktionen nicht hinwegtäuschen.
Bitter ist das für die Menschen in der Ukraine, die seit fast vier Jahren ums nackte Überleben kämpfen. Der Gipfel sendet an Kiew ein „klares Signal der Unterstützung“, heißt es aus Brüssel, verspricht mehr Geld und verhängt neue Strafmaßnahmen. Zugegeben – das ist nicht wenig, aber es ist zu wenig, um Russland zu beeindrucken und in diesem Krieg die entscheidende Wende einzuläuten. Über die Lieferung von Raketen mit großer Reichweite, die der Ukraine einen echten Vorteil verschaffen würden, wird auf EU-Ebene nicht einmal mehr diskutiert. Das brisante Thema ist nach endlosen Brüsseler Diskussionsrunden ad acta gelegt.
Diskussionen wie auf dem Krämermarkt
Kann die Zurückhaltung bei Waffenlieferungen noch nachvollzogen werden, mutet die Diskussion über die Verwendung der in Europa eingefrorenen russischen Vermögenswerte hasenfüßig an. Der Vorschlag der Kommission, die hauptsächlich in Belgien angelegten Milliarden der russischen Zentralbank als Reparationsdarlehen für die Ukraine zu nutzen, wird wie auf dem Krämermarkt zerredet. Diskutiert werden auf dem EU-Gipfel wieder einmal Fragen der Haftung oder wer was wo mit dem Geld möglicherweise kaufen darf.
Die Brüsseler Konsensmaschine stößt in einer Welt der multiplen, sich rasant entwickelnden Krisen an ihre Grenzen. Anstatt notwendige Entscheidungen schnell zu fällen, wird nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner geforscht und die Verantwortung zwischen den Staaten hin und her geschoben. Diese Uneinigkeit ist im Fall der Ukraine einfach zu erklären: Sind die Länder im Osten Europas durch den Krieg direkt bedroht, nimmt das Gefühl der Gefahr ab, je weiter man nach Westen kommt. Dort dominieren die nationalen Bedenken, wenn es um die Unterstützung für Kiew geht.
Mangelnde Solidarität in Europa
Doch über das Desinteresse der südlichen Länder zu lamentieren, ist nicht gerechtfertigt. Über Jahrzehnte haben die Staaten im Norden der EU jegliche Solidarität mit Staaten wie Spanien, Griechenland und Italien bei deren Problemen mit der Migration vermissen lassen. Erst als die dortigen Regierungen begannen, illegale Einwanderer einfach in Richtung Deutschland durchzuwinken, hat sich bei der Reform des Migrationspaktes endlich etwas bewegt.
Das offenbart allerdings das nächste EU-typische Phänomen: Es wird an wenigen großen, aber an sehr vielen kleinen Stellschrauben gedreht. Das hat zwar positive Effekte, das eigentliche Problem bleibt aber ungelöst. Aktuelles Beispiel ist die Initiative zum Bürokratieabbau. Unter der Wortführerschaft von Kanzler Friedrich Merz soll der detailversessene Regulierungseifer der EU eingebremst werden. Besser noch: Es soll eine große Offensive zum Lichten des unübersichtlichen Vorgabedschungels geben.
Ohne Reformen kein Aufschwung in Europa
Das ist ein dringend gebotener Ansatz. Doch die Hoffnung, dass diese Art der Deregulierung den für Europa erhofften nachhaltigen wirtschaftlichen Aufschwung einleitet, ist zum Scheitern verurteilt. Wirklich notwendig sind strukturelle Reformen innerhalb der EU. Ganz oben auf der Liste steht die Vollendung des Binnenmarktes in all seinen Facetten. Das würde auch die zu hohe Abhängigkeit von anderen Weltregionen verringern. Zudem steckt Europa in einer statischen Industriestruktur fest, es tauchen zu wenige neue Unternehmen auf, die die bestehenden Industrien verändern oder neue Wachstumsmotoren entwickeln.
Will Europa nicht den Anschluss an den Rest der Welt verlieren, wäre auf allen Ebenen ein mutiges geopolitisches und innovatives Handeln gefordert. So gesehen ist die EU-Initiative zum Bürokratieabbau durchaus ein Signal – allerdings ein Signal der Mutlosigkeit.