Nach 9/11 - Eine Welt, auf die man sich nicht verlassen kann

Von Von Christoph Driessen, dpa

dpa Berlin. Noch 20 Jahre später beeinflussen die Terroranschläge vom 11. September den Alltag - auch in Deutschland. Damals kam es zu einer Grunderschütterung, die bis heute nachwirkt. Ein Forscher sieht aber auch einen positiven Nebeneffekt.

Nach 9/11 - Eine Welt, auf die man sich nicht verlassen kann

Die Zwillingstürme des World Trade Centers brennen hinter dem Empire State Building. Am 11. September 2001 hatten islamistische Terroristen drei gekaperte Flugzeuge in das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington gesteuert. Foto: Marty Lederhandler/AP/dpa

Gerhard Richter kann sich noch ganz genau an den 11. September 2001 erinnern. Er saß an jenem Tag in einem Flieger von Düsseldorf nach New York. Die Maschine wurde nach Halifax in Kanada umgeleitet. Dort übernachtete der weltberühmte Maler auf einer Liege in einer Turnhalle.

„Da waren sehr viele Menschen“, erinnert sich der heute 89-Jährige im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. „Es war aufregend.“ Im Flugzeug hätten sie noch gar nicht gewusst, was los gewesen sei, erst in Halifax sei das nach und nach deutlich geworden. Angst habe er nicht empfunden, auch nicht das Gefühl, Glück gehabt zu haben. Später besuchte er Ground Zero, den Ort der Anschläge in Manhattan. „Da war ich erschüttert, als ich das sah.“ Sein Verhalten hätten die Terroristen aber nicht beeinflusst: „Ich bin Kriegskind.“

Anschläge verändern das Leben bis in den Alltag

Viele Menschen wissen, wo sie am 11. September 2001 gewesen sind. Dazu muss man nicht wie Richter im Anflug auf New York gewesen sein. Die Anschläge haben das Leben bis weit in den Alltag hinein verändert - bis heute. Beispiel Urlaub: Stunden vor der Abflugzeit muss man am Flughafen sein, alle Wasserflaschen auskippen, gegebenenfalls Gürtel und Schuhe ablegen. Vor 9/11 wäre das unvorstellbar gewesen.

Doch die Wirkung geht noch viel tiefer. Die Anschläge führten zu einer „Grunderschütterung, die bis heute anhält und sowas wie eine kollektive Traumatisierung bewirkt hat“, analysiert der Berliner Stressforscher Mazda Adli. Um nachhaltig traumatisiert zu werden, muss man ein Ereignis nicht unbedingt persönlich miterlebt haben - eine mediale Vermittlung kann auch schon ausreichen. Allerdings muss das Ereignis dafür Menschen betreffen, mit denen man sich identifiziert. „Wenn es ein Hochhaus in Kenia gewesen wäre, wären wir auch betroffen gewesen, aber wir hätten nicht so mitgelitten“, erläutert Stefan Weidner, Autor des gerade erschienenen Buches „Ground Zero: 9/11 und die Geburt der Gegenwart“.

Die Zwillingstürme des World Trade Center waren ein Ort, mit dem sich viele Deutsche verbunden fühlten. Ein Besuch auf der 415 Meter hohen Aussichtsplattform des Südturms gehörte fast obligatorisch zu einem New-York-Trip. Aber auch wer noch nie in Manhattan gewesen war, glaubte den Ort zu kennen, weil er in Filmen ständig präsent war. Diese gefühlte Nähe führte dazu, dass man bei der Zerstörung der Türme auch in Tausenden Kilometern Entfernung unwillkürlich dachte: „Das kann mir auch passieren.“

Live-Charakter trug zur Traumatisierung bei

Der Live-Charakter der Anschläge trug zu dieser Traumatisierung wesentlich bei. Weidner beschreibt 9/11 als das erste weltgeschichtliche Ereignis, das in Echtzeit rund um den Globus übertragen wurde. Dies kam auch dadurch zustande, dass die Terroristen das zweite Flugzeug erst um 9.03 Uhr Ortszeit in den Südturm steuerten - 17 Minuten, nachdem das erste in den Nordturm gekracht war. Beim zweiten Einschlag sah bereits eine globale Öffentlichkeit zu. Die Traumatisierung durch das Gefühl des Live-Dabei-Seins beobachtet Weidner jetzt wieder bei vielen Afghanen, die im Ausland leben, aber die schockierenden Ereignisse am Flughafen von Kabul über die Medien verfolgen.

Zutiefst verstörend war der 11. September auch deshalb, weil er die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit für immer verwischte. Hollywood hatte Manhattan seit „King Kong“ (1933) immer wieder zum Schauplatz von Katastrophen gemacht und das Bild der Stadt dadurch mitgeprägt. 1958 beschlichen den deutschen Schriftsteller Wolfgang Koeppen bei einem Besuch in den Betoncanyons böse Vorahnungen: „Schon sah ich einen Wolkenkratzer brennen, schon las ich die Schlagzeilen auf allen Zeitungen der Welt. Gewaltige Katastrophen schienen hier in der Luft zu liegen.“

1996 legte der deutsche Regisseur Roland Emmerich in einem der größten Blockbuster der Filmgeschichte, „Independence Day“, Manhattan einschließlich der Twin Towers in Schutt und Asche. Fünf Jahre später wurde dieses Horror-Szenario real - und zwar eindringlicher als in jeder Fiktion. Der Künstler Anselm Kiefer bezeichnete die brennenden Türme deshalb provokativ als „das perfekteste Bild, das wir seit den Schritten des ersten Mannes auf dem Mond gesehen haben“. Unbestreitbar ist: Wenn man das Bild der roten Feuerbälle vor tiefblauem Himmel erst einmal im Kopf hat, kriegt man es nie mehr da raus.

Anschläge wirken bis heute nach

Im Rückblick von 20 Jahren wird deutlich, dass die Anschläge kein abgeschlossenes Kapitel der Geschichte sind, sondern bis heute nachwirken, und dies eben nicht nur auf einer politischen Ebene, sondern auch im kollektiven Bewusstsein der Menschen. Das Gefühl, das damals abgespeichert wurde, lässt sich auf die Formel bringen: „Wenn etwas so Unwahrscheinliches möglich ist, dann muss man künftig mit allem rechnen.“ Die damit einhergehende Verunsicherung war umso stärker, weil die 90er Jahre von Optimismus getragen worden waren. Nach dem Fall der Berliner Mauer sprachen manche vom „Ende der Geschichte“: Der Westen hatte gesiegt - und mit ihm Demokratie und Globalisierung.

9/11 hat diese Zuversicht auf einen Schlag zerstört. „Es ist das Gefühl, in einer Welt zu leben, auf die man sich nicht verlassen kann“, sagt Adli. „Für die heutigen Generationen ist das damals geboren worden. Und es findet seitdem immer wieder Bestätigung in weiteren globalen Katastrophen.“ Dazu gehören für viele die Wahl des Populisten Donald Trump zum US-Präsidenten, die plötzliche Veränderung des Klimas und die Corona-Pandemie.

Adli erfährt dies auch als Psychiater: „In unsere Sprechstunden kommen immer mehr Menschen, die sich einer ungewissen Zukunft ausgeliefert fühlen.“ Weidner sieht bei der Corona-Bekämpfung viele Parallelen zum „Krieg gegen den Terror“: „In beiden Fällen glaubte man, durch Grenzschließungen die Gefahr außen vor halten zu können. Und in beiden Fällen wurden bürgerliche Freiheitsrechte massiv eingeschränkt.“

„Die Angst vor dem Anderen“

Dauerhaft verändert haben die Anschläge die Haltung gegenüber Muslimen. „Die Angst vor dem Anderen, vor dem Fremden nahm danach erst einmal deutlich zu“, sagt der Islamwissenschaftler Weidner. „Ich erinnere mich noch, dass man sich etwa nach den Anschlägen von Madrid 2004 immer etwas unwohl fühlte, wenn man in der Bahn saß und jemand zustieg, der ein wenig so aussah, wie man sich einen islamistischen Kämpfer vorstellt.“

Vor den Anschlägen wurden etwa türkische „Gastarbeiter“ in Deutschland noch weniger mit dem Islam assoziiert als mit Armutszuwanderung. „Nach 9/11 gab es dann einen radikalen Umschlag. Was vorher unterschwellig an Vorurteilen schon da gewesen war, verwandelte sich in teils offene Ablehnung.“

Mittlerweile stellt Weidner hier allerdings eine Normalisierung fest. „Einen günstigen Effekt hatte der Arabische Frühling vor zehn Jahren, weil man da gesehen hat, dass die Araber nicht gleichzusetzen sind mit ihren despotischen Regimen und einem radikalen Islam. Danach gab es die Solidarität in der Flüchtlingskrise. Heute sind wir viel besser über die islamische Welt informiert als früher und haben dadurch auch eine politisch offenere und interessantere Diskussion - man denke an die derzeitige Kolonialismus-Debatte.“ Weidner betrachtet dies als eine positive Folge von 9/11.

Wie man auch dazu steht, die Prognose der „New York Times“ vom 12. September 2001 hat sich jedenfalls bestätigt. Die Zeitung kommentierte damals, dies sei einer „jener Momente, in denen sich die Geschichte in ein Davor und Danach teilt“.

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