Nicht nur den eigenen Kirchturm im Blick

Kommunalwahl 2019: Die Regionalversammlung trifft Entscheidungen, die die gesamte Region Stuttgart betreffen

Von den verschiedenen Parlamenten und Räten, die am kommenden Sonntag neu gewählt werden, ist die Regionalversammlung wohl am wenigsten bekannt. Was dort genau entschieden wird, wissen nur wenige, dabei betreffen viele Themen die Menschen in der Region ganz persönlich.

Nicht nur den eigenen Kirchturm im Blick

Für den S-Bahn-Verkehr ist der Verband Region Stuttgart zuständig: Mit zusätzlichen Zügen und einer digitalen Steuerung soll die Kapazität auf den Linien erhöht werden. Foto: A. Becher

Von Kornelius Fritz

BACKNANG/STUTTGART. Seit 1. April gilt im Verkehrs- und Tarifverbund Stuttgart (VVS) ein neues Preismodell. Das verwirrende alte System mit 52 einzelnen Zonen und Sektoren ist Geschichte, stattdessen gibt es jetzt nur noch fünf Ringe. Mit Bus und Bahn durch die Region zu fahren, ist dadurch nicht nur weniger kompliziert, sondern für viele Fahrgäste auch um bis zu 30 Prozent günstiger geworden. So kostet etwa eine S-Bahn-Fahrt von Backnang nach Stuttgart nur noch 5,30 Euro, davor waren es 6,50 Euro. Zu verdanken haben Pendler diese Erleichterungen auch der Regionalversammlung, denn der Verband Region Stuttgart (VRS), in dem die Stadt Stuttgart und die fünf Landkreise Rems-Murr, Böblingen, Esslingen, Ludwigsburg und Göppingen organisiert sind, ist Träger des regionalen S-Bahn-Verkehrs und einer der Hauptgesellschafter des VVS.

Die Stuttgarter Regionalversammlung ist das einzige direkt gewählte Regionalparlament in Baden-Württemberg (siehe Infobox) und hat momentan 87 Mitglieder. Dem Rems-Murr-Kreis stehen zwölf Sitze zu, durch ein Ausgleichsmandat ist er zurzeit sogar mit 13 Regionalräten in Stuttgart vertreten. Die Mandate verteilen sich auf CDU (4), Freie Wähler, SPD und Grüne (jeweils 2) sowie FDP, AfD und ÖDP (je einer). Vier Regionalräte stammen aus dem Backnanger Raum: Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU), Siglinde Lohrmann (SPD), Ulrike Sturm (Grüne) und Gudrun Wilhelm (FDP).

Alle vier treten auch wieder zur Wahl an, allerdings mit unterschiedlichen Erfolgsaussichten. Nopper ist der Wiedereinzug ins Regionalparlament auf Platz 3 der CDU-Liste praktisch sicher, auch Siglinde Lohrmann hat als Nummer 2 auf der SPD-Liste gute Chancen, sofern ihre Partei nicht dramatisch abstürzt. Für Gudrun Wilhelm und Ulrike Sturm dürfte es hingegen schwierig werden, beide mussten im Vorfeld nämlich parteiinterne Niederlagen einstecken. Die Grünen setzten bei ihrer Nominierungsversammlung im Januar nicht Sturm, sondern Renate Burkhardt-Schimpf aus Sulzbach an der Murr auf den Spitzenplatz ihrer Liste. Für Ulrike Sturm, die seit 2009 in der Regionalversammlung sitzt, blieb nur der dritte Platz hinter dem Waiblinger Ulrich Dilger. Den Wiedereinzug in die Regionalversammlung hat sie trotzdem noch nicht ganz abgeschrieben: „Ausgeschlossen ist es nicht, allerdings ist der Rems-Murr-Kreis nicht gerade als Grünen-Hochburg bekannt“, sagt die 58-Jährige, die auch für den Backnanger Gemeinderat kandidiert.

Nicht besser erging es Gudrun Wilhelm, die ihren Spitzenplatz auf der FDP-Liste an den ehemaligen Bundestagsabgeordneten Hartfrid Wolff aus Schorndorf abgeben musste (wir berichteten). Die Kirchbergerin wollte diese Niederlage jedoch nicht akzeptieren und stellte zusammen mit politischen Weggefährten aus dem Backnanger Raum eine eigene Liste auf. Als „Freie Regionale Rems-Murr“ macht Wilhelm nun ihrer eigenen Partei Konkurrenz und hofft, so ihren Sitz verteidigen zu können.

S-Bahn soll häufiger fahren und pünktlicher werden

Einig sind sich die amtierenden Räte darin, dass der Verband und die Regionalversammlung als dessen politisches Gremium wichtige Institutionen sind: „Wenn jeder sein eigenes Süppchen kocht, ist es schwierig, etwas Großes hinzubekommen“, sagt Siglinde Lohrmann. Beim öffentlichen Nahverkehr, bei Straßenbauprojekten, bei der Windkraft oder aktuell beim Ausbau des Glasfasernetzes sei es wichtig, über den Gemarkungsrand der eigenen Kommune hinauszublicken.

Neben der Trägerschaft für die S-Bahn ist der VRS auch für die regionale Wirtschaftsförderung und für die Regionalplanung zuständig. Als übergeordnete Planungsbehörde versucht er, die Entwicklung der 179 Kommunen so zu steuern, dass die Region als Ganzes davon profitiert. So legt der Verband zum Beispiel Wert darauf, dass Wohnbau vor allem entlang der S-Bahn-Linien ermöglicht wird, damit der Individualverkehr in der staugeplagten Region nicht noch weiter zunimmt. Auch auf den Einzelhandel hat der VRS ein wachsames Auge: Damit die Innenstädte nicht veröden, schiebt er neuen Einkaufszentren auf der grünen Wiese einen Riegel vor.

Aus Sicht von OB Frank Nopper hat gerade Backnang in den vergangenen Jahren stark von der Region profitiert: „Beim S-Bahn-Ringschluss hat sie uns sehr geholfen.“ Auch bei der Entwicklung des interkommunalen Gewerbegebiets Lerchenäcker und der Ansiedlung des Deutschen Zentrums für Satellitenkommunikation (Desk) habe die Region eine wichtige Rolle gespielt.

Auch in den kommenden Jahren warten wichtige Aufgaben auf die Regionalversammlung. Damit die S-Bahn pünktlicher wird und die Züge in kürzeren Abständen fahren können, soll ein neues digitales Zugsteuerungssystem eingeführt werden. Die Region will die Zahl der Park-and-ride-Parkplätze in Bahnhofsnähe erhöhen, durch eine Kooperation mit der Deutschen Telekom soll der Großraum Stuttgart zur „Gigabit-Region“ werden, und mit der Internationalen Bauausstellung 2027, an der sich auch Backnang beteiligen will, steht ein regionales Großereignis vor der Tür.

„Unsere Region muss Wirtschafts- und Innovationsregion Nummer eins in Deutschland und in Europa sein und bleiben“, sagt Frank Nopper. Der CDU-Politiker gehört der Regionalversammlung schon seit ihrer Gründung vor 25 Jahren an, OB in Backnang wurde er erst acht Jahre später. Siglinde Lohrmann ist erst seit 2014 mit dabei, hat aber Gefallen an der Aufgabe gefunden. „Ich empfinde das als echte Bereicherung, weil man lernt, über den Tellerrand zu schauen“, sagt die Strümpfelbacher Ortsvorsteherin, die auch im Backnanger Gemeinderat sitzt. Neuland betritt hingegen die Spitzenkandidatin der Grünen: Renate Burkhardt-Schimpf (54) aus Sulzbach an der Murr leitet zusammen mit Bernd Messinger den Ortsverband Oberes Murrtal, hatte aber noch nie ein politisches Mandat. „Ich finde es spannend, auf regionaler Ebene gemeinsame Lösungen zu suchen“, erklärt die Buchhändlerin, die sich vor allem bei Wirtschaftsthemen einbringen möchte.

Gudrun Wilhelm und ihre Liste wollen mit ihrer Bekanntheit im Raum Backnang punkten. „Es ist wichtig, dass das Murrtal jetzt zusammensteht“, sagt die abtrünnige FDP-Rätin, die trotz des Streits mit ihrer Partei weiterhin für liberale Ideen eintreten will.

Info
Verband Region Stuttgart

Der Verband Region Stuttgart wurde 1994 durch ein Gesetz des Landes Baden-Württemberg ins Leben gerufen. Er ist die politische Ebene der Region Stuttgart in Form einer Körperschaft des öffentlichen Rechts.

Das Gebiet umfasst die Stadt Stuttgart und die Landkreise Rems-Murr, Böblingen, Esslingen, Ludwigsburg und Göppingen. Dort leben rund 2,8 Millionen Menschen.

Der VRS finanziert sich im Wesentlichen durch Umlagen der Mitgliedskommunen und Landkreise. Der Haushalt 2019 hat ein Volumen von knapp 350 Millionen Euro.

Geleitet wird der VRS von der hauptamtlichen Regionaldirektorin Nicola Schelling und dem ehrenamtlichen Verbandsvorsitzenden Thomas Bopp (CDU).

Alle fünf Jahre wählen die Bürgerinnen und Bürger die Regionalversammlung. Dieses vom Volk gewählte regionale „Parlament“ ist einmalig in Baden-Württemberg.

Die Regionalversammlung hat mindestens 80 Sitze. Durch Ausgleichsmandate kann sich diese Zahl auf bis zu 96 erhöhen. Die Zahl der Sitze pro Landkreis richtet sich nach der jeweiligen Bevölkerungszahl.