Nur eine „kleine Tätlichkeit“

Verfahren wegen Handgemenges unter Brücke eingestellt – Zeugen sagen unterschiedlich aus

Höchst unterschiedliche Aussagen der Zeugen, ein Prozesszuschauer mit Bierdose und ein drohender Rauswurf aus dem Gerichtsgebäude haben ein Strafverfahren wegen eines Handgemenges zu etwas Besonderem und auch leicht Skurrilem werden lassen.

Nur eine „kleine Tätlichkeit“

Ursprünglich wurde vor Gericht von gefährlicher Körperverletzung gesprochen. Dann wurde der Prozess aber doch eingestellt. Foto: BilderBox, E. Wodicka

Von Hans-Christoph Werner

BACKNANG. Ein 63-jähriger Lagerarbeiter und eine 27-jährige Arbeitssuchende, beide aus Backnang, hatten einen Strafbefehl erhalten. Wegen eines Handgemenges, in das sie verwickelt waren. Unter einer Backnanger Brücke. Nun gibt es in Backnang eigentlich nur eine Brücke, unter der man sich treffen kann. Und es ist von Vorteil, zu wissen, welche Szene sich unter dieser Brücke trifft. Und so forderte die gestrige Verhandlung vor allem Backnanger Ortskenntnis. Dass diese aber nicht bei jedem Staatsanwalt in Stuttgart – denn dort muss jede Strafsache, die in Backnang auf den Tisch kommt, erst einmal genehmigt werden – gegeben ist, liegt auf der Hand und ist nicht ehrenrührig.

Der Lagerarbeiter sowie die Arbeitssuchende jedenfalls trauten ihren Augen nicht, wofür sie da abgestraft werden sollten. Sie nahmen sich Rechtsanwälte und erhoben Einspruch. So kam das Geschehen vor das Amtsgericht. Aber von vorne: An besagtem Augustabend vergangenen Jahres ist eine Gruppe von Freunden zusammen, unter der Brücke. Und zu trinken hat man auch. Die Angeklagte kommt vom Einkauf und trifft unweit besagter Gruppe auf zwei Bekannte und unterhält sich mit denen. Nun ist sicherlich die Anwesenheit holder Weiblichkeit in der Nähe der Szene eine Seltenheit. Und wenn dann dem so ist, so mögen Begehrlichkeiten erwachen. Die Angeklagte zumindest schildert es so. Sie sei bei ihrem Gespräch mit den beiden Bekannten aus der Brücken-Gruppe heraus besonders in Augenschein genommen worden. Ihr missfällt dieses. So fasst sie den folgenschweren Entschluss, den Hauptbeobachter zur Rede zu stellen. „Was guckst du?“, fragt sie ihn. Dieser empfindet solches Befragtwerden nicht als Kompliment, sieht seine Chancen schwinden und ergeht sich stattdessen in Ausfälligkeiten der Dame gegenüber. Hat er sie auch gestoßen? Die beiden Bekannten der Dame sehen, dass sich da etwas zusammenbraut und kommen zur Hilfe. Es entwickelt sich ein Handgemenge, das dann bei der herbeigerufenen Polizei aktenkundig wird. Die eine Seite beschuldigt die andere Seite. Während das Verfahren gegen einen der Szene-Leute eingestellt wird, wird für die anderen der Strafbefehl ausgefertigt. Wie erwähnt: aus Stuttgarter Sicht.

In der Verhandlung betont der Angeklagte, dass er nur schlichtend eingegriffen habe. Und die Angeklagte bestreitet jegliche Fußtritte, die ihr mit dem Strafbefehl zur Last gelegt werden. Im Gegenteil: Ihr Beobachter soll die Bemerkung getan haben: „Hätte ich ein Messer gehabt, hätte ich alle abgestochen.“

Die Herren der Trinkgemeinschaft sind als Zeugen geladen. Dramatisch schildert es der Erste. Einen Schlag auf die Wange habe er erhalten, dass er Schäden an seiner Zahnbrücke davontrug. Und Anlauf habe die Angeklagte genommen und ihn mit dem Fuß getreten. In die Brust oder in den Rücken? In den Rücken. Aber wie habe er dann gesehen, dass sie Anlauf genommen habe? Und überhaupt ergeben sich viele Differenzen zu den Einlassungen des Zeugen vor der Polizei. Unterdessen ist ein Gesinnungsgenosse mit Bierdose und Plastiktüte unter den Zuhörern der öffentlichen Verhandlung eingetroffen. Die Richterin hat alle Mühe, ihn an seinen Zwischenrufen zu hindern. Dieser sekundiert dem eben vernommenen Zeugen: „Die Polizei lügt!“, ruft er in die Runde. Die Richterin droht ihm den Rauswurf an. Der zweite Zeuge tritt auf. Auch bei ihm die gleiche Überraschung. Was er vor Gericht zum Besten gibt, stimmt nicht mit den Vernehmungsprotokollen der Polizei überein, was ihn aber nicht weiter bekümmert. Der dritte Zeuge wird von der Richterin belehrt, die Wahrheit zu sagen. Mit drei zum Schwur erhobenen Fingern reckt er die Arme in die Luft. Das war’s dann auch schon. Seine Vernehmung wird abgebrochen. Zu groß sind die Verständigungsschwierigkeiten, weil die Muttersprache des Zeugen nicht das Deutsche ist.

Die Richterin regt die Einstellung des Verfahrens an. Der Angeklagte hat sich nichts zuschulden kommen lassen. Die Kosten des Verfahrens trägt in diesem Fall die Staatskasse. Auch der Verteidiger der Angeklagten möchte, dass es bei seiner Mandantin so gehalten wird. Die Richterin ist dem nicht abgeneigt, aber dass die Staatskasse auch hier die Kosten des Verfahrens und insbesondere die Anwaltskosten tragen soll, will sie nicht so ganz einsehen. Der Staatsanwalt springt ihr bei. Was muss man andere wegen der Blicke zur Rede stellen. Und die Richterin: Auch wenn die Zeugenaussagen höchst verwirrend waren, ob da nicht doch eine kleine Tätlichkeit der Dame mit dabei war? Der Rechtsanwalt berät sich kurz mit seiner Mandantin. Beide bejahen die Einstellung des Verfahrens, auch wenn die Angeklagte sehen muss, wie sie die Anwaltskosten bestreitet.