Özdemir unddie wilden Kerle

Der grüne Spitzenpolitiker beobachtet im Stuttgarter Osmanen-Prozess den lang erwarteten Auftritt des mutmaßlichen Haupttäters einer blutigen Strafaktion

Von Franz Feyder

Grünen-Politiker Cem Özdemir fordert, die Bundesregierung müsse in Sachen Osmanen aktiv werden. Dazu könnte es aufgrund des Prozesses am Landgericht Stuttgart jetzt tatsächlich kommen.

Stuttgart „Unfassbar“, seufzt Cem Özdemir. Immer wieder: „Unfassbar!“ Der Bundestagsabgeordnete der Grünen sitzt in der ersten Reihe des Stammheimer Gerichtssaals. Eine hüfthohe Barriere und ein Tisch trennen ihn von den acht Angeklagten, denen Staatsanwalt Michael Wahl vorwirft, als Mitglieder des rockerähnlichen Osmanen Germania Boxclubs gefährliche Körperverletzungen begangenen, eine Frau zur Prostitution gezwungen, Drogen verkauft und Zeugen beeinflusst zu haben.

Für Özdemir ist das alles nur die Spitze des Eisbergs. „Das kriminelle Handeln der Osmanen war nur ein Teil des politischen Konzepts“, sagt der Politiker. Unsere Zeitung, das ZDF-Magazin „Frontal 21“ und die „Neue Züricher Zeitung“ hatten nach jahrelangen Recherchen aufgedeckt, dass die Verbindungen der Osmanen bis zum türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan reichten. Er versorgte die Muskelmänner über seinen Jugendfreund Metin Külünk, seinen Geheimdienst MIT und seine in Deutschland agitierende Lobbygruppe Union der Europäisch-Türkischen Demokraten, die sich jetzt Union Internationaler Demokraten nennt, mit Geld, von dem die Osmanen Waffen kauften.

So ausgerüstet sollten sie Erdogans Kritikern von Moderator Jan Böhmermann bis hin zu Özdemir, ebenso aber auch ­Kurden zu Leibe rücken oder auch nach dem Leben trachten. Eine politische Dimension, kritisiert der frühere Grünen-Chef, „die die Bundesregierung überhaupt nicht beim Namen nennt, geschweige denn bei Erdogan thematisiert“. Vielleicht haben der frühere Osmanen-Chef Mehmet Bagci und sein Vize Selcuk Sahin deshalb nur ein verächtliches Grinsen für Özdemir übrig, als ihre Anwälte sie auf den prominenten Gast im Gerichtssaal aufmerksam machen.

Dann fällt ihr Blick auf einen Mann, der ebenfalls den Gerichtssaal betritt: Mustafa Kilinc, bis Frühjahr 2017 Vize-Anführer der Stuttgarter Osmanen. Bis er einen unliebsamen Kumpan in Herrenberg zusammenschlagen, auf ihn schießen ließ und in die Türkei floh. Ihm hatten die Richter des Stuttgarter Landgerichts freies Geleit im Gegenzug dafür zugesichert, dass er als Zeuge über den Vorfall auspacken würde. Auf Staatskosten wurde der rechtsnationale Türke, der Kumpane auf Fahnen der kur­dischen PKK urinieren und sie dann verbrennen ließ, aus Izmir eingeflogen.

175 Zentimeter Kilinc trippeln in den Gerichtssaal. In einen schwarzen Dreiteiler, den obersten Knopf des weißen Hemdes offen, die Haare raspelkurz, mächtiger Schnurrbart. Wie ein Legionär schlägt er die Rechte aufs Herz, um Bagci zu grüßen. Seine angekündigte Aussage zur Bluttat fällt kurz aus: „Ich mache keine ­Angaben!“

Die Augen des Vorsitzenden Richters, Joachim Holzhausen, weiten sich. Unglauben macht sich im Gesicht des angeklagten Levent Uzundal breit, den eine Aussage Kilinc’ mutmaßlich entlastet hätte. „Unfassbar!“, seufzt Özdemir wieder: „Der hat dem deutschen Staat gerade wieder den ausgestreckten Mittelfinger gezeigt.“ Richter Holzhausen sagt es später diplomatischer: Er sei von diesem Verhalten überrascht gewesen.

15 Tage darf Kilinc noch in Deutschland bleiben, ohne verhaftet zu werden – trotz eines internationalen Haftbefehls gegen ihn. Sollte er diese Zeit nicht nutzen, um sich deutschen Ermittlern zu stellen, dürfte dies sein letzter Besuch bei Frau, Kindern und Vater gewesen sein, die südlich von Stuttgart leben. Bei einer Wiedereinreise nach Deutschland würde Kilinc ebenso verhaftet werden wie auch dann, wenn er in den kommenden zwei Wochen eine Straftat begeht.

Der 43. Verhandlungstag im seit März andauernden Osmanen-Verfahren bringt für Özdemir vor allem eine Erkenntnis: „Diese Leute verachten unseren Rechtsstaat, unsere Polizei, unsere Staatsanwälte. Da müssen klare Zeichen gesetzt werden, aber da schläft die Politik.“

Aufwecken könnte sie ein vergangene Woche eingebrachter Beweisantrag der Verteidiger Levent Uzundals, Markus Bessler und Hans Steffan. Sie wollen Zeugen befragen, die am 12. April 2017 beim Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln an einem sogenannten Operativen Informationsaustausch zum Themenkomplex Osmanen Germania teilnahmen. An dem geheimen Treffen nahmen außer Verfassungsschützern des Bundes und der Länder Baden-Württemberg, Hessen und Nordrhein-Westfalen auch Agenten des Bundesnachrichtendienstes, des Militärischen Abschirmdienstes sowie Ermittler des Bundeskriminalamtes aus ­Baden-Württemberg, Hessen, Nordrhein-Westfalen und aus dem Saarland teil. Und auch Abgesandte des Gemeinsamen Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrums waren dabei. In diesem Zentrum sind außer den deutschen Nachrichtendiensten und Polizeibehörden auch Juristen des Generalbundesanwaltes vertreten.

Aus unserer Zeitung und dem ZDF vorliegenden Akten geht hervor, dass die Ermittler frustriert aus Köln in ihre Bundesländer zurückkehrten: Das Treffen habe zu keinen Erkenntnissen geführt, über die sie nicht schon vorher verfügt hätten, heißt es unisono. Bei den Beamten machte sich der Eindruck breit, dass „auf allen Ebenen gemauert wurde“ – also keine Informationen übergeben wurden, die die Ermittlungen weitergebracht hätten. Die Beamten empfehlen, aufgrund „des geringen Mehrwerts“ künftig an solchen Treffen zum Thema Osmanen Germania gar nicht mehr teilzunehmen. Nach dem Informationsaustausch am Rhein ermittelte jedes Bundesland alleine weiter. Im Sommer 2017 ließ die Stuttgarter Staatsanwaltschaft acht Osmanen – unter ihnen die Führungsspitze – verhaften.

In Hessen begleitete zwar der Verfassungsschutz die Ermittlungen des hessischen LKA mit eigenen Recherchen. Trotzdem flog Osmanen-Chef Bagci Anfang August 2017 – unmittelbar vor seiner Verhaftung – ins türkische Antalya, um dort an einem Treffen der türkischen Regierungspartei AKP, der UETD sowie der Osmanen teilzunehmen. Das verwundert: Ende März 2017 war Bagci bei der Polizei erschienen, um seinen Rückzug von den Osmanen zu verkünden.