Rapunzel gibt es auch ohne Zauberei

FeldkücheDer Feldsalat hat viele Namen. Doch wie er auch heißt, fast überall kommt er an Weihnachten auf den Tisch.

Von Eberhard Wein

Ach“, sagte die Frau, „wenn ich keine Rapunzeln aus dem Garten hinter unserm Hause zu essen kriege, so sterbe ich.“ Der Mann, der sie lieb hatte, dachte: „Eh du deine Frau sterben lässest, holst du ihr von den Rapunzeln, es mag kosten, was es will.“ In der Abenddämmerung stieg er also über die Mauer in den Garten der Zauberin, stach in aller Eile eine Handvoll Rapunzeln und brachte sie seiner Frau. Sie machte sich sogleich Salat daraus und aß sie in voller Begierde auf. Sie hatten ihr aber so gut geschmeckt, dass sie den andern Tag noch dreimal so viel Lust bekam. (aus: Brüder Grimm, Rapunzel)

Die Sonne steht tief über Fischingen im Markgräflerland, so dass selbst der Feldsalat Schatten wirft. Hier in Südbaden ist das wichtigste baden-württembergische Anbaugebiet für den beliebten Wintersalat. Von den landesweit 717 Hektar Anbaufläche liegen laut dem Statistischen Landesamt 550 Hektar in der Rheinebene zwischen Ortenau und Schweizer Grenze. Dabei gibt es hier fast nur kleine Strukturen. So wie auf dem Hof von Biogärtner Yogi Reinhard: 15 Hektar Getreide, 35 Hektar Gemüse. Auf drei Hektar baut er Feldsalat an.

Rapunzel, wie die kleinen Blätter auch heißen, gelten längst als der beliebteste Salat der Deutschen. Das ist, gemessen an der Anbaufläche, auch in Baden-Württemberg so. Selbst unter Glas ist der Feldsalat die am häufigsten vertretene Salatart. Und anders als im gleichnamigen Grimm’schen Märchen ist der Genuss auch weitgehend ohne Reue möglich. Vom 1. November bis zum 1. März ist er auf den Märkten zu haben, auch Reinhard hat ihn dann im Angebot. „Das ist Pflichtprogramm.“ Im Supermarkt gibt es Import- und Treibhausware sogar das gesamte Jahr über. Da muss niemand eine böse Zauberin bestehlen. Wobei: Seinen Preis hat der Feldsalat natürlich schon.

Dunkle Zauberkünste bedarf es zur Produktion allerdings nicht. „Im Prinzip“, sagt Yogi Reinhard und schaut auf sein Feld, „im Prinzip hätte ich jetzt gerne jemanden von Monsanto da.“ Der solle sich das mal ansehen. Der Verzicht auf die Chemie des amerikanischen Herbizid- und Saatgutherstellers ist für ihn eine ökologische Notwendigkeit. Er ist aber auch davon überzeugt, dass die konsequente Weiterentwicklung jahrhundertealter agrarischer Prinzipien auf der Grundlage modernster Kenntnisse der natürlichen Kreisläufe keineswegs schlechtere Ergebnisse liefern muss als der konventionelle Gartenbau.

Sein Feldsalat gibt ihm recht. Kaum irgendwo zeigt sich eine Vogelmiere oder ein Ehrenpreis. Die Pflänzchen stehen in sauberen Siebenerreihen, jedes Beet 150 Meter lang. „Das kannst du nicht mehr steigern“, sagt der Biogärtner.

Reinhard – 60 Jahre alt, kräftige Hände, die graue Lockenpracht zu einem Dutt geflochten – ist in diesem Jahr sehr zufrieden. Die richtige Vorbereitung des Bodens sei das A und O. „Die oberen fünf Zentimeter müssen eine feine Struktur haben.“ Hinzu komme eine passende Fruchtfolge. In diesem Sommer standen beispielsweise Roggenwickengemenge auf den jetzigen Salatfeldern. Anderswo können es auch Erdbeeren sein. Dann braucht es keine Spritzmittel. Nimmt das Unkraut – der Biobauer sagt lieber Beikraut – überhand, lässt sich das mit einem Abflammgerät regeln. Die größten Feinde seiner zarten Blättchen dürfte die chemische Keule sowieso nicht umhauen. Es sind die Rehe aus dem nahen Wäldchen. Der Feldsalat gehöre zur Familie der Baldriangewächse, sagt Reinhard – für Rotwild ein Leckerbissen. „Vielleicht muss ich Vogelscheuchen aufstellen.“

Das Markgräflerland wird gerne als Toskana Deutschlands bezeichnet. Reinhard gefällt der Begriff nicht so gut. Schließlich wird er schon fast inflationär für alle möglichen Tourismusregionen gebraucht. Richtig ist aber, dass das milde Klima, in dem auch der Wein bestens wächst, den Feldsalat begünstigt. Im Winter gibt es nur schwache Froste, der Spätsommer ist warm, die Sonnenscheindauer deutlich über dem Durchschnitt. Dennoch ist das Markgräflerland dank der Lage auf der Wetterseite des Schwarzwalds nicht ganz trocken. Und, auch das ist wichtig: Es liegt nur selten lange Schnee auf den Pflanzen, der zum Ernten weggeräumt werden müsste.

Die Ernte ist gleichwohl mühsame Handarbeit. Reinhard geht auf die Knie, zückt ein Küchenmesser und schneidet unterhalb des Stängels durch die Erde. Die Mitarbeiter, die das sonst erledigen – 25 Vollzeitkräfte arbeiten in der Produktion der Gärtnerei –, seien wahre Artisten, sagt Reinhard. Wer ein ganzes Feld ernte, lege sich dazu bäuchlings auf den Boden. 700 bis 1200 Gramm kommen pro Quadratmeter zusammen. Trotz dieser überschaubaren Menge ist der Feldsalat im Winter nicht nur an Reinhards Marktständen, die in Basel, Lörrach oder Schopfheim stehen, der entscheidende Umsatzbringer. Verkauft wird 100-Gramm-weise zum Preis um die zwei Euro. „40 Kilogramm Lauch bringen mir 140 Euro, 40 Kilogramm Feldsalat fast 800“, rechnet er vor. Jetzt kommt der Saisonhöhepunkt. Vor Heiligabend geht locker die dreifache Menge Feldsalat über die Theke als an normalen Samstagen. Um darauf vorbereitet zu sein, braucht es einen minutiösen Kulturfahrplan. Der erste Feldsalat wird am 10. August gesät. Kaum 70 Tage später kann er geerntet werden. Was an Weihnachten auf den Tisch kommt, wird um den 2. September als Samen in die Erde gebracht. Da braucht der Salat wegen der abnehmenden Wärme schon 90 Tage. Die letzten Felder werden dann rund um den 25. September bestückt. Dann liegt die Reifezeit bei 130 Tagen.

Der Feldsalat ist ein Wintergewächs. Im Prinzip ließe er sich auch im Sommer kultivieren, nur würde er da zu schnell wachsen und kein Aroma ausbilden. Dass allerdings erst einmal ein Frost über die Pflanzen gehen müsse, bevor der Feldsalat richtig schmecke, glaubt Reinhard nicht. Das sei so eine Bauernregel, mit der er sich schwer­tue. Für ihn sei der erste Feldsalat der Saison immer eine Verheißung, auch wenn es noch keinen Frost hatte. „Das ist, wie wenn man im Urlaub zum ersten Mal wieder das Meer sieht“, sagt Reinhard.

Der Feldsalat hat viele Namen. Ackersalat heißt er im Schwäbischen, Schafsmäuler oder Hasenöhrchen in Franken, Vogerlsalat in Österreich, Rapunzel in Sachsen und Thüringen. In Südbaden ist die Namensdichte aber besonders hoch. In der Ortenau kommen Ritscherli auf den Tisch, am Kaiserstuhl sind es Sunnewirbili, im Elsass lieben sie den Mache und in Basel den Nüssler. Im Markgräflerland erntet Reinhard den Nüsslisalat, der seinen Namen vermutlich wegen des nussigen Geschmacks trägt. Allerdings gebe es abgesehen vom Namen weitere Unterschiede. „Der Feldsalat ist bei uns im Markgräflerland schon ganz speziell“, sagt Reinhard. Wichtig sei eine kleine kompakte Rosette. „Was in anderen Bundesländern angeboten wird, wäre hier unverkäuflich“, ist er sich sicher. „Die Blätter sind ja viel zu groß.“