Eine Reha-Kur für die Wälder

In den nächsten Wochen kreist anhaltend der Helikopter über dem nördlichen Rems-Murr-Kreis und bringt Kalk auf den Waldböden auf. Diese Maßnahme dient dem Säureausgleich.

Eine Reha-Kur für die Wälder

Alle ein bis zwei Minuten muss der Kalkkübel neu gefüllt werden, damit der Heli-Pilot den Inhalt über den Wäldern ausbringen kann. Archivfoto: A. Becher

Von Ute Gruber

SULZBACH AN DER MURR. Morgens früh auf der nieseligen Höhe bei Berwinkel wartet man mit Radlader, Streubehälter und einigen Kubitainern voller Kerosin auf den Hauptakteur. Gerade noch hat man ganz entfernt ein leises Knattern gehört, schon rauscht die Maschine donnernd im Bogen ganz knapp über die Bäume und kommt mit leichtem Schwanken rauschend auf der Wiese zum Stehen. Das Gras duckt sich wie im Sturm kreisförmig zu Boden, Haare und Jacken des Bodenpersonals stellt es im Rotorenwind waagrecht nach hinten.

Dann werden unter Auslaufen der Flügel die langen Halteseile des trichterförmigen Streubehälters am Bauch des zierlichen, bunten Flugzeugs arretiert und die letzten Details besprochen: „An der Schrank’n im Wald muss noch a Band’l hie“, weist der österreichische Pilot auf die Sicherheitsvorkehrungen hin, dann startet Antonio Pinto Leite mit dem Radlader zur ersten Ladestelle im Wald zwischen Fischbachtal und B14. Ihn erwartet heute – und an vielen weiteren Tagen – ein anstrengender Job: Alle ein bis zwei Minuten wird ihm der Pilot den leeren Kübel, der 25 Meter unter dem knatternden Helikopter baumelt, zum Befüllen neben einen der Haufen mit Gesteinsmehl stellen. Diese Lagerplätze hat Revierleiter Axel Kalmbach im Vorfeld zusammen mit dem Piloten und Organisator Jürgen Baumann strategisch sinnvoll ausgewählt: Der Hubschrauber, der rund 1200 Euro in der Stunde kostet, soll möglichst wenig Leerlauf haben.

Ausgebracht werden pro Tag etwa 200 Tonnen oder sechs Lkw-Ladungen, die auf Waldwegen und Kreuzungen alle 500 Meter im Vorfeld deponiert wurden. Eine logistische Herausforderung, zumal wenn an anderen Orten ebenfalls gekalkt wird. Immer nur eine Tonne wird geladen. Gewicht kostet Sprit und Zeit, wie Pilot Paul Buchner erklärt: „Da zählt jedes Kilo.“ Weshalb er den Kerosintank auch nur drei viertel voll tankt und jetzt vor dem Einsatz rasch noch den Beifahrersitz ausbaut.

Abgase haben dem Wald jahrzehntelang zugesetzt.

In der Kabine mit dabei hat Buchner eigens ausgedruckte Landkarten mit der Kalkungskulisse. Farblich hat die Forstliche Versuchsanstalt (FVA) in Freiburg auf der Basis von Bodenproben markiert, welche Flächen zum Säureausgleich nur mit fein gemahlenem Dolomit überstreut werden sollen – einem natürlich vorkommenden Gemisch aus Calcium- und Magnesiumcarbonat – und welche zusätzlich zertifizierte Holzasche bekommen sollen, um vor allem ausgewaschenes Kalium und auch Phosphor zu ersetzen. Ebenfalls markiert sind sogenannte Ausschlussstandorte wie Quellgebiete oder Moore, die ausgespart werden müssen, ebenso wie natürlich Siedlungen, Straßen und Gewässer. Dann lässt Buchner die Flügel wieder anlaufen und hebt ab. Auf einem kleinen Monochrom-Bildschirm im schlichten Cockpit ist die heutige Fläche orange abgebildet: „Das male ich jetzt beim Fliegen aus wie bei einem Malbuch“, erklärt Buchner. Wenn alles schwarz ist, ist Feierabend.

Traurig sieht der Schwäbische Wald derzeit aus: Nicht nur die ohnehin anfälligen Fichten, auch viele heimische Bäume wie Buche, Weißtanne, Esche kränkeln und sterben nach Hitze und Trockenheit der vergangenen Jahre. Schon einmal sah es ähnlich schlecht aus in deutschen Wäldern: in den 70er-Jahren. Allerdings war damals der Regen schuld, der saure Regen nämlich. Ungefilterte Abgase aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe in Industrie, Häusern und Kraftfahrzeugen setzten Schwefel- und Stickstoffverbindungen frei, die mit dem Niederschlagswasser als Säuren auf den Boden gelangten. Innerhalb von 65 Jahren war der pH-Wert im baden-württembergischen Waldboden um rund zwei Zähler gesunken, auf unter vier. Kein Regenwurm hält das aus. Das Bodenleben kam zum Erliegen, Bäume ließen Nadeln und Blätter fallen.

In den 80er-Jahren wurden einhellig Maßnahmen zur Abgasfilterung auf den Weg gebracht und zur Kompensation des laufenden Säureeintrags werden seitdem jährlich landesweit 10000 Hektar gekalkt. Mit Erfolg, denn seit der Jahrtausendwende spricht man bereits von einer Kalkung zur Regeneration: Nun soll der ursprüngliche Zustand des Waldbodens wieder erreicht werden. Und dies nicht nur im Staatswald, sondern 2020 zum ersten Mal in größerem Stil auch in Kommunalwäldern. Auch der Sulzbacher Gemeinderat hatte vergangenes Jahr beschlossen, seinen großen Kommunalwald für den Klimawandel fit zu machen und die Durchwurzelung durch Kalkung auf ausgewählten 435 Hektar zu verbessern. Mindestens 45000 Euro wird die Gemeinde diese Reha-Maßnahme für den Wald kosten – nach Abzug der Fördermittel (90 Prozent des Nettobetrags).

Paul Buchner hat seinen Kindheitstraum vom Berufspiloten konsequent und mit Enthusiasmus verwirklicht. Er könne sich wenig dafür begeistern, auf einer Rettungswache zu sitzen und auf einen Einsatz zu warten oder wichtige Personen durch die Luft zu chauffieren. Ein aufregendes Jahr im selbstlosen Einsatz als Rettungspilot im Krisengebiet Sudan brachte ihm bewegende Einsätze und tiefe Einblicke in die anarchischen Zustände eines Bürgerkrieges, aber auch eine gründliche Ernüchterung: „Das war noch nicht mal ein Tropfen auf dem heißen Stein.“ Deshalb freut sich der 36-Jährige auf die Aufgabe, die er jetzt hierzulande für den Patienten Wald übernehmen darf: „Das ist doch endlich mal was Sinnvolles!“

Bäume wurzeln durch Kalk tiefer

Durch Kalkung des Waldbodens steigt dessen pH-Wert allmählich wieder an, wodurch sich Bodenlebewesen wie der Regenwurm wieder wohlfühlen. Diese bewirken eine gründliche Durchmischung und Lockerung des Bodens. Die Menge und Qualität des Humus steigt, was wiederum CO2, Nährstoffe und Wasser bindet. Die Bäume wurzeln tiefer und intensiver und erreichen so auch weiter unten liegende Wasservorräte. Durch die gute Versorgung mit Calcium und Magnesium können die Pflanzen ihre Verdunstung besser regulieren. Insgesamt werden sie also resilienter gegen Trockenstress und Hitze.

Im Rems-Murr-Kreis wird in den nächsten Wochen auf gut 800 Hektar Dolomit (Calcium- und Magnesiumcarbonat) aus einem Steinbruch bei Sulz am Neckar ausgebracht, aus Gründen der örtlichen Geografie überwiegend mit dem Hubschrauber. Auf insgesamt knapp 550 Hektar besonders ausgemagerten Böden wird auch rückstandskontrollierte Holzasche zugemischt, knapp die Hälfte kann hierbei kostengünstig mit einem Blasgerät vom Boden aus aufgebracht werden.

Die geplanten Bruttokosten belaufen sich in der Summe auf 475000 Euro; pro Hektar fallen netto zwischen 225 (nur Dolomit mit Blasgerät auf Unimog) und 490 Euro (Dolomit plus Holzasche mit Hubschrauber) an, wovon 90 Prozent durch öffentliche Fördermittel getragen werden. Um eine Tonne Kalk auszubringen, sind bei Bodenausbringung 1,5 Liter Diesel nötig, beim Helikopter 12 Liter Kerosin; wo möglich wird daher bevorzugt bodengebunden appliziert.

Im Anschluss an Sulzbach werden die Wälder der folgenden Kommunen gekalkt: Murrhardt, Rudersberg, Winnenden, Kirchberg an der Murr (hier nur Ausbringung vom Boden aus, Ende September). Mitte August sollen die Maßnahmen aus der Luft abgeschlossen sein.

Während der Maßnahme ist aus Unfallschutzgründen der Zutritt zum jeweiligen Waldgebiet gesperrt. Jäger, Reitvereine, Imker, Waldkindergärten und andere wurden bereits schriftlich informiert, alle anderen Waldbesucher werden ebenfalls gebeten, die Absperrungen zu beachten.