Roboter in der Pflege? – Nein danke!

Ministerin a.D. Katrin Altpeter sprach über Herausforderungen im Pflegebereich – Arbeitspensum fürs Personal stark gewachsen

Projekte zur umfassenden Digitalisierung werden gern mit der Bezeichnung geschmückt: Industrie 4.0. Daran angelehnt lautet die Ankündigung „Pflege 4.0 – Roboter statt Mensch?“. Der Gesprächskreis „Offene Kirche“ innerhalb der Württembergischen Landeskirche hatte zu einem Vortrags- und Ausspracheabend eingeladen. Referentin: Katrin Altpeter, frühere Sozialministerin.

Roboter in der Pflege? – Nein danke!

Von Hans-Christoph Werner

WEISSACH IM TAL. Die Wahl der Württembergischen Landessynode steht bevor. Und da will der Gesprächskreis auf sich und seine Kandidaten aufmerksam machen. Auch dadurch, dass aktuelle Themen angesprochen werden. Uli Maier vom Gesprächskreis kommt gleich auf das Thema zu sprechen. Das Fragezeichen, so sagt er, in der Titelformulierung des Abends sei ihm wichtig. Es stehe infrage, ob der Mensch durch den Roboter abgelöst werden kann.

Die frühere Sozialministerin und gegenwärtige Leiterin einer Altenpflegeschule Katrin Altpeter soll zum Thema sprechen. Und nach einleitenden Klaviertönen durch Stefan Lenz ist sie auch gleich dran. Hilfreich, so sagt Katrin Altpeter, sei es, angesichts des Themas ein paar schlichte Zahlen zur Kenntnis zu nehmen. Im Jahr 1999 waren in Deutschland 210000 pflegebedürftige Personen zu versorgen. 18 Jahre später waren es bereits 398000. Der Großteil der zu Pflegenden – 75 Prozent – wird zu Hause versorgt. Als sie, die Ministerin a.D., im Jahr 1984 ihre Altenpflegeausbildung machte, waren von 25 Personen im Pflegeheim etwa zwei voll pflegebedürftig. Gänzlich gewendet hat sich die Situation heute: Von 25 Personen seien 24 voll pflegebedürftig. Wobei sich der Personalschlüssel in der Pflege, so betont Katrin Altpeter, von damals zu heute nicht verändert hat.

Das bedeutet, dass die Pflegekräfte heute ein viel größeres Arbeitspensum zu erbringen haben. Dazu herrsche großer Fachkräftemangel. Um die prekäre Situation in der Pflege zu verbessern, habe Bundesgesundheitsminister Jens Spahn 13000 neue Stellen versprochen. Doch weder der Minister, so kritisiert Altpeter, noch irgendjemand sonst wisse, woher dieses fehlende Personal kommen soll.

Auch die heute gängige Praxis, gering bezahlte 24-Stunden-Pflegekräfte aus anderen Ländern in Deutschland einzusetzen, habe die Kehrseite, dass diese Pflegekräfte dann in ihren Heimatländern fehlten. Von daher habe es nahegelegen, auch für den Pflegebereich im Sog einer Digitalisierungseuphorie entsprechende Überlegungen anzustellen. Sogenannte Robotik wird erprobt. Zum Beispiel autonom agierende Hebehilfen für bettlägerige Patienten. Aber auch für Versorgungswege, zum Beispiel der Transport von Wäsche in Pflegeheimen, würden selbsttätig agierende Systeme erprobt. Selbst bei der Verpflegung habe man automatisierte Essensausgabe erprobt, sei aber schnell wieder zurückgerudert. Denn damit entfalle auch die Möglichkeit zu verständigenden Gesprächen. In Pflege-Musterwohnungen werde zurzeit allerhand elektronisches Equipment wie Freisprechanlagen oder automatische Lichtregulierung und anderes erprobt. Aber solche Ausstattung kostet. Die Pflegeversicherung, so Katrin Altpeter, wird das nicht übernehmen.

Auch sogenannte Telecare-Systeme wären hilfreich. Eine Pflegerin auf Hausbesuch macht von der zu versorgenden Wunde eines Patienten per Smartphone eine Aufnahme. Ein Arzt, der die Aufnahme bekommt, meldet prompt das weitere Vorgehen zurück. Die Dokumentation der Pflegemaßnahmen durch die Einsatzkräfte könnte durch moderne Technik unterstützt werden. Insgesamt aber sei es nicht möglich, so die zentrale Aussage der früheren Ministerin, automatisierte Produktionsabläufe aus der Industrie auf den Umgang mit Menschen zu übertragen. Um den Pflegenotstand in Deutschland zu beheben, seien zum einen mehr Personal und zum anderen mehr Finanzmittel nötig. Zugegeben, ein pflegerischer Beruf bedeute eine große Arbeitsbelastung. Aber die schlechte Bezahlung und andere Arbeitsbedingungen machten ihn unattraktiv. Mit dem von jungen Leuten gern gewählten Beruf des Mechatronikers könne der Pflegeberuf nicht mithalten. Es bedürfe eines politischen Konsenses und großer Anstrengungen, um dies zu ändern. „Wir haben mit Menschen zu tun, stehen in der Pflege mit anderen in Beziehung.“ Siri, der Sprachcomputer, könne zwar den Befehl ausführen, den Fernseher anzumachen, so Katrin Altpeter, „aber Siri schwätzt nicht mit Ihnen“.

Viele Pflegeeinrichtungen in Württemberg werden von der Kirche unterhalten (Diakonie). Deshalb die interessierte Nachfrage von Zuhörern, ob denn die Kirche anders agiere als andere Anbieter. In diakonischen Einrichtungen sei der Personalschlüssel höher. Aber auch hier stehe man vor der Aufgabe, Pflege finanzierbar zu halten. Noch deutlicher müsste die Kirche hier ihre Stimme erheben, so Katrin Altpeter, und klarstellen: Ein Patient ist keine Ware. Und man könne die Pflege nicht dem Markt überlassen.

Marion Scheffler-Duncker, Diakonin und Religionspädagogin im Kirchenbezirk Backnang, berichtete von ihren Gesprächen mit Schulabgängern. Nur wenige würden einen pflegerischen Beruf wählen. Das liege aber auch daran, dass dieses Berufsfeld unbekannt sei. Praktika innerhalb der Schullaufbahn könnten dem abhelfen. Es sei bekannt, dass Absolventen eines Freiwilligen Sozialen Jahres vermehrt einen Pflegeberuf ergreifen. Freilich müsse die Fähigkeit zur Empathie mitgebracht werden. Anke Fetzer, die andere Kandidatin der „Offenen Kirche“, sieht es als Aufgabe der Kirche, in der Gesellschaft einen Klärungsprozess über die Frage „Was ist lebenswert?“ herbeizuführen. Einig war man sich unter den Zuhörern des Abends, dass Pflege nicht über die ausufernde Dokumentation von Einzelleistungen am Patienten zu finanzieren sei, sondern schlicht und einfach über die Zeit, die der Pflegende beim Patienten verbringt.

Ein gelungener Zufall war’s, dass Stefan Lenz zum Abschluss die Noten zu dem Beatles-Titel „When I’m Sixty-Four“ dabei hatte. Bei so viel Schwung kam Hoffnung auf für die Zukunft der Pflege.