Neun Tote gab es bei Gefechten zwischen Polizei und IS-Kämpfern nahe Istanbul. Hat die türkische Polizei in der Nacht zum Montag einen Neujahrsanschlag vereitelt?
Rettungswagen bringen Verletzte in ein Krankenhaus in Yalova. Bei einem Schusswechsel in der Stadt starben drei Polizisten und sechs Extremisten.
Von Susanne Güsten
Im Morgengrauen peitschten Schüsse durch die Sehergasse in der Stadt Yalova bei Istanbul. „Allahu-akbar“-Rufe waren zu hören, dann weitere Salven aus automatischen Waffen. Die türkische Polizei umstellte in der Nacht zum Montag ein Haus in der Gasse, um ein Versteck von Kämpfern des Islamischen Staates auszuheben. Nachdem die Dschihadisten auf die Beamten schossen, entwickelte sich ein stundenlanges Feuergefecht, das Anwohner per Handy filmten. Als das Gefecht am Vormittag endete, waren sechs Extremisten und drei Polizisten tot. Möglicherweise hat der Einsatz einen IS-Anschlag auf Neujahrsfeiern in Istanbul vereitelt.
Anti-Terror-Einsätze sind seit dem Ende des Kurdenkrieges im Februar selten geworden in der Türkei. Anders als die kurdische PKK, die ihre Waffen niedergelegt hat, bleibt der Islamische Staat gefährlich. Die Terrorgruppe hatte im syrischen Bürgerkrieg als Flüchtlinge getarnte Kämpfer in die Türkei geschleust, die dort neue Mitglieder anwarben. Die am Montag in Yalova getöteten IS-Kämpfer waren laut Innenminister Ali Yerlikaya türkische Staatsbürger. Neun Mitglieder der Sicherheitskräfte wurden bei dem Gefecht verwundet.
Religion als Vorwand
Der Islamische Staat errichtete vor elf Jahren ein „Kalifat“ in Teilen von Syrien und Irak und zog zehntausende Freiwillige aus der ganzen Welt an. In den Jahren darauf wurde der IS von einer internationalen Allianz unter Führung der USA zurückgedrängt und 2019 aus seiner letzten Hochburg vertrieben. In jüngster Zeit melden sich die Dschihadisten wieder mit Anschlägen zurück: Vor zwei Wochen tötete ein IS-Mitglied in Syrien zwei amerikanische Soldaten und einen Dolmetscher.
Der IS betrachtet die Republik Türkei als Feind und hat mehrere schwere Anschläge in dem Land verübt. Im Oktober 2015 starben mehr als hundert Menschen bei einem IS-Anschlag in Ankara, im Januar 2016 tötete ein Selbstmordattentäter vor der Sultanahmet-Moschee in der Istanbuler Altstadt zehn Menschen, darunter acht deutsche Touristen. Im selben Jahr überfiel ein IS-Kämpfer in der Silvesternacht einen Nachtclub in Istanbul und erschoss 39 Gäste.
Für das Neujahrsfest gelten seitdem in Istanbul umfangreiche Sicherheitsvorkehrungen. Auch nicht-militante Islamisten in der Türkei kritisieren die Silvesterfeiern, weil sie sich nach dem westlichen und nicht nach dem islamischen Kalender richten.
Innenminister Yerlikaya sagte nach dem Einsatz gegen das IS-Haus in Yalova, Terroristen würden die Religion als Vorwand nehmen, um Gewalt zu rechtfertigen. Die Polizei hat nach seinen Worten in den vergangenen Wochen mehr als 200 mutmaßliche IS-Mitglieder festgenommen, die Anschläge auf Kirchen zur Weihnachtszeit oder auf Silvesterfeiern vorbereitet haben sollen.
Frauen und Kinder im Haus
Die Polizeiaktion in Yalova gehörte laut Yerlikaya zu einer Welle von Razzien gegen den IS am Montagmorgen. In 15 Provinzen der Türkei wurden demnach 108 Wohnungen durchsucht. Ziel waren mutmaßliche IS-Zellen, die jederzeit losschlagen könnten. Istanbul ist von Yalova aus mit der Fähre über das Marmara-Meer bequem zu erreichen. Kurz vor Weihnachten fasste der türkische Geheimdienst nach Berichten staatlicher Medien ein hochrangiges Mitglied des afghanischen IS-Ablegers, IS-Khorasan, der als besonders brutal gilt. Dem Festgenommenen, der wie die IS-Kämpfer in Yalova türkischer Staatsbürger ist, wird demnach die Planung von Selbstmordanschlägen in der Türkei und anderen Ländern vorgeworfen. Kirchen und Synagogen in Istanbul werden seit Tagen mit Großaufgeboten bewaffneter Polizisten bewacht.
Die IS-Kämpfer hätten schon länger in dem Haus in Yalova gewohnt, meldete die Zeitung „Hürriyet“ in ihrer Online-Ausgabe. Weil Frauen und Kinder dort mit den Männern zusammen lebten, hätten Nachbarn gedacht, bei den Zuzüglern handele es sich um normale Familien.
Bei Ankunft der Polizei verschanzten sich die IS-Kämpfer und setzten nach Medienberichten ihr Haus in Brand. Videos im Internet zeigten aufsteigenden Rauch und Flammen, die aus dem Haus schlugen. Über dem Viertel kreiste ein Polizeihubschrauber. Das Feuergefecht der IS-Mitglieder mit der Türkei dauerte nach Medienberichten rund sechs Stunden. Wegen der Gewalt und der Gefahr von Querschlägern schlossen die Behörden fünf Schulen in der Nähe der Sehergasse. Die Gas- und Stromversorgung in dem Stadtviertel wurde gekappt.
Innenminister Yerlikaya sagte, die Polizei habe das IS-Versteck wegen der Frauen und Kinder nicht mit voller Waffengewalt gestürmt. Nach der Schießerei holten die Beamten fünf unverletzte Frauen und sechs Kinder aus dem Gebäude. Fünf Verdächtige wurden festgenommen.