Sportlicher Anspruch auf dem Liegerad

12. Bäder- und Rehatour des Krebsverbands Baden-Württemberg führt nach Tschechien – Marco Longobucco aus Auenwald ist dabei

Die 12. Bäder- und Rehatour des Krebsverbands Baden-Württemberg führt in diesem Jahr nach Tschechien. Marco Longobucco aus Auenwald ist nicht nur als irgendein Teilnehmer dabei – er war es, der vor 13 Jahren Anlass und Anstoß gab für die inzwischen schon legendäre gemeinsame Fahrradtour behinderter und, nun ja, anderer Menschen.

Sportlicher Anspruch auf dem Liegerad

Hund Pi begleitet Marco Longobucco beim Training, bei der Bäder- und Rehatour bleibt er jedoch zu Hause. Foto: J. Fiedler

Von Renate Schweizer

AUENWALD. Sie trafen sich zufällig: Marco Longobucco, damals in Ausbildung zum Kaufmann als Teil einer Rehamaßnahme, und Hubert Seiter, damals Chef der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg. Der eine fragte den anderen nach dem Weg, weil er es eilig hatte zum Vortragssaal im Berufsförderungswerk Schömberg, er wollte einen Vortrag vor Rehafachberatern halten. Der andere war sauer, weil ihn „seine“ Rehaberater in eine Ausbildung gesteckt hatten, die ihm nicht lag.

Mit Reha kenne er sich bestens aus, erklärte Marco Longobucco also dem Renten- und Rehaprofi. Seit er nämlich nach seinem Motorradunfall aus dem Koma aufgewacht sei, sei er mit Reha beschäftigt und jetzt grade drauf und dran, die ungeliebte Ausbildung hinzuschmeißen. Kaufmann! Er, der Motorrad- und Automechaniker gewesen war. Leidenschaftlicher Fahrradfahrer. Kaufmann sei das Letzte, was er werden wolle.

Hubert Seiter protestierte energisch. Er solle auf jeden Fall durchhalten. Und er gab ihm seine Telefonnummer: Wenn er die Prüfung bestanden habe, solle er ihn anrufen, dann könnten sie zusammen eine schöne Fahrradtour machen.

Am Ende fuhren die beiden nicht etwa „behindertengerecht“ ein paar Stunden an Rems oder Murr entlang, wie es im wahrsten Sinn des Wortes nahegelegen hätte – am Ende radelten sie von Bruch an den Gardasee, weil Marco unbedingt nach Italien wollte. Am Ende wurden sie ziemlich beste Freunde und am Ende war’s gar kein Ende, sondern die erste einer ganzen Reihe von Touren quer durch halb Europa. Immer mehr Freunde und Freundinnen radelten mit, behinderte und nicht behinderte, auf zwei oder drei Rädern, einer mit dem Handrad („Seine Oberarme müssten Sie sehen!“), und weil Hubert Seiter ehrenamtlich Vorstand des Krebsverbands Baden-Württemberg war und ist, bekam das Unternehmen ein Dach, ein Logo, ein Motto („Zeigen, was möglich ist“) und einen klangvollen Namen: Bäder- und Rehatour des Krebsverbands Baden-Württemberg.

Nicht mehr fliegen – wegen des Klimas

Einmal – 2011 war das – ging es sogar mit dem Flieger nach Griechenland und von dort aus über Bulgarien, Serbien, Ungarn und Österreich zurück ins heimische Auenwald. „Das würden wir heute nicht mehr so machen“, erklärt Marco Longobucco beim Interviewtermin mit der BKZ. „Fliegen und so.“ Der Umwelt wegen. „Ich lese Zeitung, ich will Bescheid wissen – all diese Horrormeldungen wegen des Klimas.“ Auch deshalb geht’s dieses Mal mit dem Zug nach Tschechien und dort vom Standquartier aus auf Sternfahrten.

Geblieben ist der sportliche Anspruch: So zwischen 80 und 120 Kilometer am Tag dürfen es schon sein. Longobucco und Seiter (der inzwischen im Ruhestand ist und Träger des Bundesverdienstkreuzes am Bande) fahren einen Tag früher los als der Rest der Truppe und legen einen Teil der Anfahrtsstrecke auf den heiß geliebten Rädern zurück. In Longobuccos Fall ist das ein dreirädriges Liegerad, die zwei Räder auf der vorderen Achse lenkt er mit links, der rechte Arm ist gelähmt.

Wer öfter mal in der Backnanger Bucht unterwegs ist, kennt ihn zumindest vom Sehen, denn im Sommer ist er jeden Tag mit seinem Gefährt draußen. Es ist der Mann mit der himmelblauen Brille und dem schwarzen Hund an der Seite. Der Hund heißt Pi – ja genau, wie die Kreiszahl – und bleibt bei der Bäder- und Rehatour zu Hause, denn auch für den perfekten Fahrradbegleithund sind die Tagesetappen viel zu weit.

Am Tag des Interviews ist der Motorradunfall 7638 Tage her. Longobucco rechnet das mal eben so aus und erklärt en passant das Prinzip „Schaltjahr“. „7638 Tage – und wissen Sie was?! Mein Leben ist seitdem interessanter geworden. Schwieriger, ja, aber auch spannender. Ich hab so viele Menschen kennengelernt, die ich sonst nie getroffen hätte. Ich kann für mich selbst sorgen, langsamer als andere, aber es geht, ich fahre Rad, ich mach Judo – im Backnanger Verein, schreiben Sie das unbedingt, die Leute sind toll! Und ich mach ehrenamtlich Jugendarbeit. Ich kann die ersten 680 Stellen hinterm Komma von Pi auswendig, ich meistere Dinge.“

Man glaubt ihm aufs Wort. Nur bei der Sache mit den 680 Stellen hinterm Komma von Pi beschleichen die Autorin dieses Textes Zweifel. Er ruft die Seite in seinem Computer auf, man liest auf dem Bildschirm mit, er deklamiert die Zahlen. Staunen. Bei der 278. Kommastelle gibt die Autorin auf: Er kann’s wirklich.