„Da war die Hölle los“: Prozess um Paketbomben an Firmen

Von Von Marco Krefting und Sebastian Fischer, dpa

dpa Heidelberg. Explosive Post erreicht im Frühjahr Lebensmittelfirmen in Bayern und Baden-Württemberg. Einem Rentner wird dafür jetzt in Heidelberg der Prozess gemacht. Zum Auftakt schildert ein Opfer die Folgen der Tat: Rauschen im Ohr, Schwindel und Schlafstörungen.

„Da war die Hölle los“: Prozess um Paketbomben an Firmen

Polizeifahrzeuge stehen vor dem Werk eines Getränkeherstellers. Foto: Rene Priebe/dpa/Archivbild

Das Paket, das ihm zum Verhängnis werden sollte, hatte der Mann erst einmal beiseitegelegt. Es war nur allgemein an die Getränkefirma ADM Wild in Nordbaden adressiert. Als der Mitarbeiter der Poststelle die restlichen Sendungen sortiert hatte, öffnete er das Päckchen. So groß wie eine Büchersendung. Es explodierte.

„Da war die Hölle los“, sagt der 44-Jährige am Mittwoch vor dem Landgericht Heidelberg - rund sieben Monate später. Es sei alles schwarz und voller Rauch gewesen. Bis er sich zu der Aussage durchringen kann, muss er mehrmals tief einatmen, sich Tränen aus den Augen wischen. Noch heute ist er gezeichnet von den Folgen der Paketbombe, geht zum Psychologen, bekommt Medikamente. Er berichtet von einer Panikattacke, Rauschen im Ohr, Schwindel, Schlafstörungen.

Fotos aus dem Krankenhaus direkt nach dem Vorfall zeigen Wunden an Kopf und Händen, Fotos der Kriminaltechnik das teilweise zerfetzte Paket. Metallteile und Spülschwämme schauen heraus. Das Kartonteil mit dem Adressaufkleber habe man erst Tage später bei einer Nachuntersuchung gefunden, sagt ein Polizeibeamter als Zeuge aus.

Für die Tat verantwortlich sein soll ein 66-jähriger Rentner. Zwei weitere selbstgebaute Pakete hat er den Vorwürfen zufolge an die Lidl-Zentrale in Neckarsulm bei Heilbronn und an den oberbayerischen Babynahrungshersteller Hipp in Pfaffenhofen an der Ilm adressiert. Drei Menschen wurden bei Lidl verletzt, als der Sprengsatz dort detonierte. Das Paket an Hipp wurde rechtzeitig abgefangen.

Doch beim Prozessauftakt bestreitet der gelernte Elektriker jeden Zusammenhang mit der explosiven Post. „Ich bin nicht die von Ihnen gesuchte Person“, sagt der Deutsche. Er sei nicht derjenige, der in einem Video aus einer Ulmer Postfiliale zu sehen ist, in der die drei Sendungen aufgegeben worden waren. Zu dem Zeitpunkt sei er zu Hause gewesen.

Er habe auch noch nie anderen Menschen Schaden zugefügt, beteuert der Mann, der zwischen seinen Verteidigern noch kleiner wirkt, als er ohnehin ist. Während der Wild-Mitarbeiter aussagt, starrt er nur auf den Boden, würdigt den Mann keines Blickes. Die Haare grau, oben lichter, hinten länger. Der Justiz wirft der 66-Jährige vor, ihn mit großem Aufwand „zerstören“ zu wollen. „Ich hoffe auf Gerechtigkeit.“

Darüber hinaus äußert sich der Rentner nur zu seinem Werdegang und betont dabei vor allem sein soziales Engagement - worüber er auch seine Frau kennenlernte. Sie kauften ein Reihenhaus. Fragen werde er keine beantworten, kündigt ein Anwalt an.

Die Staatsanwaltschaft wirft dem Mann das Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion, gefährliche Körperverletzung und versuchte schwere Körperverletzung vor. Er habe in Kauf genommen, dass Menschen schwer verletzt werden, sagt der Oberstaatsanwalt. Dass sie Gliedmaßen, Sehvermögen und Gehör verlieren. Bei dem Mann zu Hause sei Munition gefunden worden, die er nicht besitzen durfte. Die Pakete sollen mit Drohungen weiterer Gewalttaten gegen Mitarbeiter und/oder Kunden versehen gewesen sein. Das alles, um von den Firmen Geld zu erpressen? Bis zu 15 Jahre Haft drohen dem Rentner.

Beim Getränkehersteller Wild in Eppelheim fragte die Polizei am 16. Februar auch nach früheren Drohungen, nach frustrierten und gefeuerten Mitarbeitern, erläutert ein Beamter vor Gericht. Kein Zusammenhang. Einen Tag später kommt die Meldung über den Sprengsatz bei Lidl. Da ahnen sie: Es handelt sich nicht um einen Einzelfall.

Über Sendungsnummern gelangen die Ermittler an Fotos von den Paketen aus einem Verteilzentrum, wie einer von ihnen berichtet. Darauf zu sehen als Absender: Namen von Frauen, gut leserlich gedruckt. Doch die Genannten gibt es nicht. Die Adressen hingegen schon. Sie gehören den Angaben nach zu Studentenwohnheimen in Ulm, Augsburg und München.

Auf diesem Wege finden die Polizisten auch heraus, dass nicht nur die zwei Pakete aufgegeben wurden, sondern auch das dritte an Hipp. „Das war dann das zweite Mal, wo das Adrenalin so richtig hochgegangen ist“, sagt einer der Beamten im Zeugenstand. Dank Verzögerungen beim Postdienstleister hatte es sein Ziel noch nicht erreicht. Es wird im Paketverteilzentrum am Flughafen München abgefangen und entschärft.

Immer wieder versuchen Verbrecher gewaltsam, hohe Geldbeträge von Unternehmen zu fordern: Im April 2018 etwa mussten ein 50-Jähriger und seine Lebensgefährtin für neun beziehungsweise acht Jahre und neun Monate ins Gefängnis, weil sie in Nordrhein-Westfalen vor Lidl-Filialen drei Rohrbomben gezündet und insgesamt elf Millionen Euro gefordert hatten. Im Juni 2020 wurde ein 56-jähriger Erpresser zu zehneinhalb Jahren Haft verurteilt. Er hatte mit vergifteter Babynahrung fast zwölf Millionen Euro von mehreren Lebensmittelunternehmen in Friedrichshafen am Bodensee verlangt.

Für das aktuelle Verfahren sind elf Fortsetzungstermine bis Mitte November geplant. 47 Zeugen und 3 Sachverständige sind geladen.

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„Da war die Hölle los“: Prozess um Paketbomben an Firmen

Der Angeklagte (M) kommt zu seinem Anwalt Steffen Lindberg (r) in den Gerichtssaal des Landgerichts. Foto: Uwe Anspach/dpa pool/dpa