Das Interview von Landessozialminister Manfred Lucha (Grüne) mit unserer Zeitung sorgt für heftige und zum Teil empörte Reaktionen.
Erntet für seine Verfassungsklage viel Kritik: Landessozialminister Manfred Lucha (Grüne).
Von Norbert Wallet
Der Konflikt zwischen dem baden-württembergischen Sozialministerium und dem Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA), dem höchsten Gremium der Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen, geht in heftiger Tonlage weiter. Ausgangspunkt ist eine Mindestmengen-Regelung des GBA. Der Ausschuss hatte entschieden, dass Kinderkliniken seit 2024 jährlich mindestens 25 extrem unreife Frühgeborene (unter 1250 Gramm) behandeln müssen, um deren Versorgung anbieten zu dürfen. Dagegen hat Baden-Württemberg vor dem Bundesverfassungsgericht zusammen mit zwei weiteren Bundesländern geklagt, weil die Landesregierung das für einen Eingriff in das Krankenhaus-Planungsrecht der Länder hält.
In einem Interview mit unserer Zeitung hatte Landessozialminister Manfred Lucha (Grüne) schwere Vorwürfe gegen den GBA erhoben, den er am liebsten abgeschafft sehen möchte. Lucha nannte die vom GBA festgesetzte Zahl von 25 „völlig willkürlich“ und sprach von einer „politisch getriggerten Zahl“, für die es „keinerlei wissenschaftliche Evidenz“ gebe.
„Schockierend“, „unsachlich“, „haltlos“
Der Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses, Josef Hecken, nennt im Gespräch mit unserer Zeitung die Äußerungen Luchas „schockierend“, „unsachlich“ und „haltlos“. Luchas Aussagen ignorierten „jedwede medizinische und wissenschaftliche Evidenz und würden keiner fachlichen Überprüfung standhalten“, sagte Hecken. Er weist darauf hin, dass der GBA nicht willkürlich handele, sondern auf der Basis einer klar definierten gesetzlichen Grundlage Mindestmengen festlege. Er verweist ferner darauf, dass „alle Fachgesellschaften im Bereich der Perinatalversorgung“ die Mindestmengen-Festlegung stützen würden. Sogar die großen Zentren der Perinatalversorgung in Baden-Württemberg hätten sich schriftlich bei Minister Lucha für höhere Mindestmengen eingesetzt.
Tatsächlich hatten die Präsidenten oder Vorsitzenden von fünf führenden Fachgesellschaften und Arbeitsgemeinschaft der Geburtsmedizin in einer gemeinsamen Erklärung mit entschiedener Ablehnung auf die Verfassungsklage reagiert. Sie drücken darin „absolutes Unverständnis“ für die Klage aus. „Sollte es zu einer Aufhebung der Mindestmengenregelung für die Versorgung von extrem unreifen Frühgeborenen kommen, besteht die Gefahr, dass in Deutschland wieder mehr Kinder versterben“, heißt es in der Erklärung. Die Fachmediziner fordern die Gesundheitsminister der Länder auf, „sich für ein gesundes Aufwachsen der kommenden Generation einzusetzen und sich für einen Erhalt der Mindestmengenregelung stark zu machen“.
International ist Deutschland allenfalls Mittelmaß
In ihrer Stellungnahme weisen die Experten darauf hin, dass in den meisten Industrieländern die Versorgung der Frühchen in wenigen ausgewiesene Zentren erfolge, wobei in jedem Zentrum deutlich mehr als 100 sehr unreife Kinder pro Jahr behandelt werden. „Im Gegensatz zum internationalen Standard und im Widerspruch zur wissenschaftlichen Datenlage, ist die Versorgung von jährlich rund 5000 sehr unreif geborenen Kinder in Deutschland auf ungefähr 150 Einrichtungen verteilt, die teilweise weniger als 2 dieser Kinder pro Monat betreuen“, heißt es in der Erklärung. Auch eine Regierungskommission zur Krankenhausversorgung war Ende 2024 zum Ergebnis gekommen, dass „Deutschland nach OECD-Daten in der Qualität der perinatologischen Versorgung im europäischen Mittelfeld“ liege oder noch geringere Qualität erreiche, „zum Beispiel bei der Säuglingssterblichkeit“.
An diesem Freitag meldete sich auch Professor Mario Rüdiger, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin, unter dem Eindruck des Lucha-Interviews zu Wort. „Wenn eine Verfassungsklage auf der persönlichen Erfahrung von Kinderärzten in Einrichtungen beruht, welche die Mindestmenge nicht erfüllen, dann spricht das nicht unbedingt für den Sachverstand des klagenden Ministeriums“, sagte er. „Die kleinsten Patienten haben ein Recht darauf, entsprechend der aktuellen Datenlage versorgt zu werden.“
Dass die drei Bundesländer die Verfassungsklage zurückzunehmen ist ausgeschlossen. Bisherige juristische Versuche, die Mindestmenge zu kippen schlugen fehl. So bestätigte das Landessozialgericht Berlin im vergangenen Sommer die Entscheidung. Die Begründung hatte es in sich. „Für Relativierungen, wie sie die Klägerinnen vornehmen wollen, in dem sie zuletzt eine Verringerung der jährlichen Anzahl der Sterbefälle um nur wenige Fälle nicht für geeignet halten, eine Anhebung der Mindestmenge zu rechtfertigen, ist aus Sicht des Senats angesichts der überragenden Wichtigkeit des Schutzes menschlichen Lebens kein Platz“, hieß es in der Urteilsbegründung. Damals hatten einzelne Kliniken geklagt.
Dies, sagt GBA-Vorsitzender Josef Hecken, widerlege „den haltlosen Willkürvorwurf“.