Studie: „Querdenker“ im Südwesten sind anders als im Osten

dpa Stuttgart/Basel. Wie gefährlich, wie rechts, wie radikal ticken die „Querdenker“? Forscher der Uni Basel haben die Protestbewegung nun in einer einzigartigen Studie untersucht. Die Ergebnisse sind überraschend.

Studie: „Querdenker“ im Südwesten sind anders als im Osten

Ein Mann trägt ein Schild mit der Aufschrift „Keine indirekte Impf-Pflicht“. Foto: Christoph Schmidt/dpa/Archiv

Warum marschieren Menschen aus der bürgerlichen Mitte mit Rechtsextremen durch die Straßen? Und warum ist die „Querdenken“-Bewegung gerade in Baden-Württemberg so stark verwurzelt? Diesen Fragen haben sich nun Soziologen der Universität Basel im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung gewidmet. Sie haben die Verbindungen der „Querdenker“ in ihrem Ursprungsland Baden-Württemberg zu früheren Protestbewegungen untersucht und die Rolle bestimmter sozio-kultureller Milieus bei ihrer Entstehung.

Die Wissenschaftler konnten 1150 Mitglieder von Telegram-Gruppen zum Ausfüllen eines Fragebogens bewegen. Man habe mit der Umfrage eher die Vernünftigen in der Bewegung erreicht und nicht die harten Verschwörungstheoretiker und Reichsbürger, räumte Wissenschaftler Oliver Nachtwey, der hinter der Studie steht, am Montag in Stuttgart ein. Es handle sich nicht um eine repräsentative Befragung, aber man habe dennoch zielgenau Erkenntnisse über die Bewegung gewinnen können. Außerdem haben die Forscher einzelne Anhänger der Bewegung sowie Experten länger interviewt und Demonstrationen beobachtet.

LINKSALTERNATIVE WURZELN: Nicht wenige Protestler aus Baden-Württemberg haben ihre Wurzeln im linksalternativen Milieu. Rund 30 Prozent der Befragten gaben an, früher mal die Grünen gewählt zu haben, sagte Nachtwey. Viele Studienteilnehmer hätten angegeben, noch bei der Bundestagswahl 2017 für die Grünen gestimmt zu haben. Nachtwey erklärte, dass das alternative und anthroposophische Milieu bei der Entstehung der Grünen eine Rolle gespielt habe. Aber viele Teilnehmer der Bewegung hätten sich nicht nur von den Grünen entfremdet, sondern allgemein von den Kerninstitutionen der liberalen Demokratie. Sie wählten heute die AfD oder gar nicht mehr. Nachtwey sprach von einer Bewegung von links nach rechts. Von linken Werten wie Solidarität und Gleichheit sei im Grunde nichts mehr übrig.

WISSENDE WIDERSTÄNDLER: Die „Querdenker“ stellten sich als kritische Experten und heroische Widerstandskämpfer dar, erklärte die Soziologin Nadine Frei. Sie verstünden sich als wahre Verteidiger von Demokratie und Freiheit und als Teil eines „Kerns der Eingeweihten“. Als Eingeweihte glaubten sie, über ein höheres Wissen zu verfügen und die wirklichen Beweggründe der staatlichen Maßnahmen zu kennen. Auch gegen Stigmatisierung und Repression hielten sie an ihrer vermeintlichen Expertise fest. Gleichzeitig komme die Mehrheit der Teilnehmer aus der Mittelschicht. Nachtwey zeichnete das Bild einer „Bewegung der qualifizierten Mitte“. Der Altersdurchschnitt liege bei 47 Jahren, viele seien durchaus gebildet, in Vollzeit beschäftigt, teils sogar promoviert.

ANTIAUTORITÄRE UND ESOTERIKER: Die Forscher erkannten nur eine schwache Verbindung zum christlich-evangelikalen Milieu und einen noch geringeren Zusammenhang zum Milieu rund um die Protestbewegung gegen Stuttgart 21, die beide in Baden-Württemberg stark verankert seien. Stattdessen führt die Studie die Corona-Proteste vor allem auf das alternative Milieu und das anthroposophische Milieu zurück. Individualität, Selbstbestimmung und Naturverbundenheit seien darin geteilte Bezugspunkte. „Die Form des antiautoritären Gestus hat uns überrascht“, sagte Nachtwey.

UNTERSCHIEDE ZUM OSTEN: Die „Querdenker“ im Südwesten ticken anders als im Osten der Republik. Der Anteil von AfD-Wählern ist dort in der Bewegung viel höher als in Baden-Württemberg, so die Studie. Dafür gibt es im Südwesten doppelt so viele ehemalige Grünen- und Linke-Wähler unter den Protestlern als im Osten. In Sachsen seien die Proteste stärker von der extremen Rechten geprägt und trügen deutlich weniger esoterische Züge, heißt es in der Studie. Insgesamt sieht Nachtwey aber eine wachsende Gefahr der weiteren Radikalisierung.

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