Stuttgarts Trauma unter dem Wasserwerfer

Vor 15 Jahren eskaliert der Kampf um das Bahnprojekt Stuttgart 21 – ein Schwarzer Donnerstag mit zahlreichen Verletzten. Wie war es zur Eskalation gekommen?

Von Wolf-Dieter Obst

Stuttgart - Wasserwerfer. Kampf im Park. Pfefferspray. Schlagstöcke. Wutbürger. Juchtenkäfer. Blutende Augen. Rücktritte. Gerichtsurteile. Machtwechsel. Schwarzer Donnerstag: 15 Jahre ist es her, als das Bahnprojekt Stuttgart 21 mit beispielloser Härte von Politik und Polizei vorangetrieben wurde. Am 30. September 2010 sollten in einem kleinen Teil des Mittleren Schlossgartens 25 Bäume gefällt werden. Dabei geriet alles außer Kontrolle – und ein Polizeieinsatz zum Desaster. Ein Rückblick auf die Ereignisse, die für viele zum Trauma wurden. 

Der Startschuss mit 25 Bäumen

Auf dem Parkareal zwischen dem einstigen Zentralen Omnibusbahnhof (ZOB) und dem Biergarten soll eine Grundwasseraufbereitungsanlage installiert werden. Für das Baugelände müssen 25 Bäume weichen. Eine Genehmigung des Eisenbahn-Bundesamts liegt scheinbar seit 2005 vor, ist aber, wie sich später erweist, aufgrund zahlreicher Planungsänderungen nicht mehr auf dem neuesten Stand. Dieser kleine Bereich steht in der Öffentlichkeit allerdings gar nicht im Fokus – sondern der gesamte Park. Im Mittleren Schlossgarten sollen nach Ende der Vegetationsperiode, also nach dem 30. September 2010, Bäume fallen.

Alles läuft als Geheimsache. Man will die Parkschützer und Baumbesetzer, die Gegner und Demonstranten noch vor dem 1. Oktober vor vollendete Tatsachen stellen. Doch der ursprüngliche Aufmarschtermin der Polizei um 15 Uhr wird den Parkschützern und in Kreisen der S-21-Gegner vorab bekannt. Der Stuttgarter Polizeipräsident Siegfried Stumpf setzt auf einen Trick, der ihm schon einmal gelungen ist: Einfach noch früher anfangen. Doch so einfach ist die Logistik mit Hunderten Beamten, verstärkt durch ortsunkundige Kräfte aus Bayern, Hessen und Rheinland-Pfalz, nicht zu handhaben. Die Handys der S-21-Gegner sind mit SMS schneller.

Die Polizei in der Abseitsfalle

Der Plan ist mit heißer Nadel gestrickt: Eine Polizeikette bilden, das Gelände auf 475 Metern Länge abriegeln, dahinter Gitter aufstellen, dann die Baufahrzeuge an den Einsatzort bringen. Startzeit: vorverlegt auf 10 Uhr. Eine gleichzeitig in der Lautenschlagerstraße stattfindende Schülerdemo mit 800 gemeldeten Teilnehmern gilt als weniger problematisch. Die Polizei braucht laut Geheimplan nur fünf bis zehn Minuten zum Absperren, nach 45 Minuten sollen auch die Gitter stehen. Es sollte völlig anders kommen.

Die Verstärkung steckt im Stau. Und die Vorbereitungen fallen auf. Die Gegner schlagen um 10.25 Uhr per SMS Alarm. Der erste Marschblock der Einsatzhundertschaft aus Böblingen trifft erst um 10.40 Uhr aus Richtung Schillerstraße im Park ein. Die Verstärkung aus Bayern sogar erst gegen 11 Uhr. Da sind die Demonstranten schnell in der Überzahl. Die ersten Beamten können den Zufluss nicht stoppen. Es kommt zu ersten Rangeleien.

Mit 16 Bar gegen S 21-Protestierende

Ein zusätzlicher taktischer Fehler: Der Polizeikonvoi aus Gitter-Lkw und Wasserwerfern kommt nicht etwa auf dem kurzen Weg vom ZOB durch die Hintertür – sondern weithin sichtbar auf dem asphaltierten Fußweg vom Café am See herangefahren. Schon wenige Demonstranten reichen, um den Tross aufzuhalten. Mit Sitzblockaden und Kapern des Lkw und seiner Absperrgitter-Ladung. Um 11.15 Uhr beginnt ein „massiver Widerstand“, so die Polizei. Er endet folgenschwer. 

Die ersten Wurfgeschosse fliegen

Der Widerstand wächst. Und die Wut. Es fliegen Wurfgeschosse. Landesinnenminister Heribert Rech (CDU) spricht später von Pflastersteinen, die Demonstranten dagegen von Kastanien. Gleichwohl: Die Eskalation ist im vollen Gang. Polizeipräsident Stumpf findet trotzdem Zeit für eine Pressekonferenz im Landtag, gibt um 11.53 Uhr den Abschnittsleitern grünes Licht für den sogenannten „unmittelbaren Zwang“. Um 12.18 Uhr gehen die Beamten erstmals mit Pfefferspray gegen die Blockierer vor, um 12.48 Uhr startet der Wasserwerfer-Einsatz. Zunächst mit sogenanntem Wasserregen, am Ende mit bis zu 16 Bar Druck, auch gegen Köpfe. Es gibt zahlreiche Verletzte. Am Ende sind es mindestens 180, laut Parkschützern mehr als 400. Das Bild des 66-jährigen Dietrich Wagner, mit blutiger Augenpartie und nahezu erblindet, löst Entsetzen aus.  

Verwirrung um Baumfällarbeiten

Stundenlang wird zäh um jeden Meter gekämpft. Die Polizeikette, angeblich eine Sache von fünf Minuten, steht erst um 16.35 Uhr. Polizeipräsident Stumpf wirkt betroffen: „So was haben wir noch nie gehabt! Wenn wir in Stuttgart massiv aufgetreten sind, dann ist man gewichen.“ Man habe sich hier durchsetzen müssen. Am 1. Oktober 2010 um 0.58 Uhr wird unter wütendem Protest der erste Baum umgesägt. Erst viel später wird ein um 17.11 Uhr versendetes Fax des Eisenbahn-Bundesamts an die Bahn Projektbau GmbH bekannt. Darin heißt es, dass Ausführungsunterlagen fehlten, auch bezüglich des Juchtenkäfers, und deshalb der Hinweis ergehe, „dass Sie nicht mit den Baumfällungen beginnen dürfen“. Zu spät. Nachträglich, am 2. Oktober, erklärt das Bundesamt, dass dies nicht als Fäll- oder gar Baustopp gewertet werden dürfe. Die Anforderung gelte „vor Beginn weiterer Fällarbeiten“. 

Die Konsequenzen des Einsatzes

Wie urteilt die Geschichte über den Schwarzen Donnerstag? Der damalige Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) wird im März 2011 abgewählt. Er verliert die Landtagswahl. Polizeipräsident Stumpf lässt sich in den vorzeitigen Ruhestand versetzen. Wegen Körperverletzung im Amt erhielt er letztlich einen Strafbefehl über 120 Tagessätze, insgesamt 15 600 Euro, den er akzeptierte. Zwei Einsatzleiter hatten zuvor in 24 Prozesstagen eine Einstellung des Verfahrens wegen geringer Schuld mit einer Geldauflage von je 3000 Euro erreicht. Ein Staffelführer und ein Kommandant der Wasserwerfer akzeptierten einen Strafbefehl von sieben Monaten Haft auf Bewährung. In einer Fünf-Jahres-Zwischenbilanz der – indes nicht minder kritisierten – Stuttgarter Staatsanwaltschaft wurden 228 Verfahren gegen Unbekannt und 287 Verfahren gegen bekannte Beschuldigte registriert.

Das Verwaltungsgericht hat den Polizeieinsatz im November 2015 letztlich als rechtswidrig eingestuft. Es habe sich um keine Verhinderungsblockade gehandelt, sondern um eine Versammlung – und die hätte zuvor auf Grundlage des Versammlungsgesetzes aufgelöst werden müssen. Das sei aber nie erklärt worden – und wäre voraussichtlich auch nicht rechtssicher möglich gewesen. Eine „kollektive Unfriedlichkeit“ der Protestierenden konnten die Verwaltungsrichter nicht erkennen.