„Tempo 100 kam von oben herein“

Bauleiter Frieder John sagt: Der Leutenbachtunnel ist konstruktiv nur auf Tempo 80 ausgelegt – Die Bauweise schaffe eine ungünstige Fahrdynamik

Erneut hat es gekracht im Leutenbachtunnel: Am ersten Weihnachtsfeiertag krachte eine BMW-Fahrerin mehrfach gegen die Wand. Zwar ging der Unfall glimpflicher aus, als manch anderer an gleicher Stelle, gleichwohl dürfte er die Diskussion um eine Reduzierung auf Tempo 80 befeuern.

„Tempo 100 kam von oben herein“

Zu einem tödlicher Unfall im Leutenbachtunnel kam es beispielsweise im Januar 2018. Ein Autofahrer kam nach rechts von der Fahrbahn ab und prallte gegen Betonelemente am Tunnelportal. Archivfoto: 7aktuell/Simon Adomat

Von Uwe Speiser

LEUTENBACH. Eine 24-Jährige, in Richtung Backnang unterwegs, touchierte mit ihrem BMW den rechten Bordstein und schleuderte in der Folge mit ihrem Wagen mehrfach gegen die Tunnelwand. Die Polizei geht in ihrem Bericht von „nicht angepasster Geschwindigkeit“ als Unfallursache aus. Was aber nicht heißen muss, dass die Frau schneller fuhr als die maximal zulässigen 100 km/h. Es kommt nämlich auf die Bedingungen im Tunnel zum Zeitpunkt des Unfalls an.

Einer, der den Tunnel bestens kennt, ist Frieder John. Der 51-jährige Oppelsbohmer war von 2004 bis 2013 Bauleiter beim Regierungspräsidium (RP) beim Bau des neuen B-14-Abschnitts zwischen Winnenden und Nellmersbach für den Tunnel zuständig, allerdings für die Ausführung, nicht für die Planung. Während die Polizei statistisch gesehen nicht von einem Unfallschwerpunkt spricht, nennt er die Unfallzahl in den zehn Jahren seit Freigabe des Tunnels schockierend.

Keine Seitenstreifen und über vier Prozent Längsneigung

Beim Thema zulässige Höchstgeschwindigkeit widerspricht John seinem früheren Arbeitgeber direkt. Der Tunnel sei nämlich „konstruktiv“ nur auf maximal 80 km/h ausgelegt. So sei es auch im Planfeststellungsbeschluss seinerzeit gestanden und damit Baurecht gewesen. Daran habe es nie einen Zweifel gegeben, bis das RP, eine andere Abteilung dort, entschieden habe, dass 100 ausgeschildert wird. Aber warum? Man habe offenbar gewollt, dass in allen Tunneln im Regierungsbezirk das gleiche Tempolimit gilt, so John. Die Anordnung sei ein reiner Verwaltungsvorgang gewesen: „Das kam von oben rein.“ Womit sich die Frage stellt, warum, wenn es diesen „politischen Willen“ wirklich gab, ausgerechnet der Leutenbachtunnel und nur er zuvor für Tempo 80 geplant war und so ausgeführt wurde. Das könne er heute nicht mehr sagen, zumal die Planung für den Tunnel über 20 Jahre zurückliege, so John. „Die Geschwindigkeitserhöhung auf 100 hat uns alle damals kalt erwischt. Für uns war das ein Schock.“

Er verweist auf Besonderheiten, ja fast Alleinstellungsmerkmale des Leutenbachtunnels. Es gibt dort keine Seitenstreifen. Seiner Kenntnis nach sei das im Regierungsbezirk nur in zwei anderen, allerdings betagten, Tunneln so: im Lämmerbuckeltunnel am Albaufstieg und im Tunnel Hölzern bei Neustadt/Kocher, 80 und 40 Jahre alt. Deutschlandweit sei es in vielleicht rund 20 Tunneln ebenso. „Fehlende Seitenstreifen bedeutet aber keinerlei Toleranz bei Fahrfehlern.“ Das mache sich in der Unfallzahl bemerkbar.

Ebenfalls Auswirkungen habe die Erhöhung von 80 auf 100 km/h, also um 25 Prozent. Das höre sich erst mal nach nicht viel an. Aber diese Erhöhung gehe bei den Fliehkräften in den Kurven quadratisch ein, diese seien damit um 60 Prozent höher, die Radien seien dafür aber gar nicht ausgelegt.

Es gebe noch weitere Eigenheiten. Zwar seien die Tunnelquerschnitte normiert, aber das Gefälle, die Längsneigung betrage im Leutenbachtunnel über vier Prozent in beiden Fahrtrichtungen. John verweist dazu auf das Straßentunnel-Sicherheitsgesetz. Dort heißt es, dass in Tunneln mit einer Längsneigung von über drei Prozent ausgehend von einer Risikoanalyse zusätzliche und/oder verstärkte Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit zu treffen seien. Möge die Höchstgeschwindigkeit 100 km/h „rechnerisch“ möglich sein, werde dabei aber die Fahrdynamik doch ignoriert. „Wenn alle Regler am Anschlag sind, gibt’s eben keinen Toleranzbereich mehr, der kleine Fehler verzeihen würde“, betont John.

Die augenscheinliche Asymmetrie des Leutenbachtunnels, der unterschiedliche Gefälle- und Steigungsverlauf je nach Fahrtrichtung, sei die Folge der unterschiedlichen Einfahrhöhen an den beiden Tunnelportalen, erklärt John. „Der Tiefpunkt liegt deutlich näher auf der Waiblinger Seite.“ Konstruktiv sei das aber kein Problem, gefährlich werde es erst dadurch, dass der Tiefpunkt, die „Wanne“, mit einer Kurve zusammengelegt wurde. Diese Kombination schaffe auch dort eine ungünstige Fahrdynamik.

Ebenfalls unfallträchtig: Die kurvige Trassenführung

Noch ein Faktor, der sich laut John gefahrverschärfend auswirkt: die Trassenführung im Tunnel, dessen Kurvigkeit: „Der ist konstruktiv extrem verwunden.“ Konkret gemeint ist damit die Rechts-Links-Kombination zweier Kurven hintereinander. Fast alle Tunnel hätten nur eine Krümmung, eine leichte Kurve, und eine Kuppe, so John, als Beispiel auf den Kappelbergtunnel verweisend.

Was Pkw-Fahrern eher nicht auffällt: Laut John liegt im Tunnel ein „Holperbelag“, der im Bereich vor und nach dem Tiefpunkt besonders schlecht sei. Kleine Spitzen im Belag wirkten bei entsprechender Geschwindigkeit wie Schwellen. Der Fahrbahnbelag sei in Teilbereichen ausgetauscht worden. „Mehr war damals nicht durchsetzbar.“

Er bezweifle, dass die „Gesamtsituation“ des Leutenbachtunnels wirklich überprüft wurde, so John. Der sei im Vergleich zu den meisten anderen Tunneln ein „völlig anderer Charakter“. Wenn technisch alles ausgereizt sei, und dann noch der „Faktor Mensch“ dazukomme, passierten Unfälle. Das Beharren des RP darauf, damals sei alles korrekt abgelaufen, und auch des Landratsamts darauf, Tempo 100 sei angemessen, erklärt sich John mit der „wahnsinnigen Angst im höheren Dienst, bei Fehlern erwischt zu werden“. Er hat 2013 das RP verlassen, nachdem er für die Ausschreibung und Fertigstellung der neuen B-14-Anschlussstelle Backnang-Mitte zuständig war.