Türkei: Verfassungsgericht nimmt Verbotsklage gegen HDP an

dpa Istanbul. Seit Jahren steht die prokurdische Oppositionspartei HDP in der Türkei unter Druck. Ein erster Verbotsantrag wurde wegen formaler Mängel abgewiesen. Jetzt aber droht ihr das Aus.

Türkei: Verfassungsgericht nimmt Verbotsklage gegen HDP an

Das Archivbild zeigt das türkische Parlament in Ankara. Foto: Burhan Ozbilici/AP/dpa

Das türkische Verfassungsgericht hat ein Verbotsverfahren gegen die prokurdische Oppositionspartei HDP eröffnet. Das Gericht in Ankara nahm am Montag einstimmig eine Anfang Juni eingereichte Klage des Generalstaatsanwalts an, wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu berichtete.

Der Partei wird darin unter anderem Separatismus vorgeworfen. HDP-Co-Chef Mithat Sancar sprach von einer „politischen Kampagne“ gegen seine Partei. Die HDP ist die zweitgrößte Oppositionspartei im Parlament. Präsident Recep Tayyip Erdogan wirft ihr vor, der verlängerte Arm der PKK zu sein, die in der Türkei, Europa und den USA als Terrororganisation gilt. Erdogan und sein Unterstützer, der Chef der ultranationalistischen MHP, Devlet Bahceli, bezeichnen HDP-Politiker immer wieder als Terroristen. Die HDP weist Terrorverbindungen zurück.

Sancar bezeichnete den Schritt zum Verbot als politisch motiviert und warf der türkischen Führung Hetze gegen seine Partei vor. Er verwies auf den Angriff auf das HDP-Büro in Izmir am Freitag, bei dem eine Mitarbeiterin getötet wurde. Die Regierung mache die Partei zur Zielscheibe, sagte er. „Das Verbotsverfahren wurde am Ende einer monatelangen politischen Kampagne eröffnet.“ Die Anklageschrift sei nicht von der Staatsanwaltschaft, sondern von der MHP und dem Präsidentenpalast erstellt worden. Das Verfassungsgericht hätte sie ablehnen müssen und habe mit der Annahme eine „historische Chance“ für die Demokratie verpasst, erklärte Sancar.

Die Grünen-Politiker Claudia Roth und Cem Özdemir erklärten, das HDP-Verbotsverfahren sei ein „politischer Schauprozess einer Justiz von Erdogans Gnaden“. Über das Ergebnis des Verfahrens entscheide am Ende Erdogans Präsidentenpalast, „der die Unabhängigkeit der Justiz sukzessive abgeschafft hat“. Roth und Özdemir forderten „massiven Druck“ und Sanktionen der Bundesregierung und der EU gegen die türkische Regierung.

Die HDP steht schon seit Jahren unter Druck. Tausende ihrer Mitglieder sitzen unter anderem wegen Terrorvorwürfen in türkischen Gefängnissen. Der ehemalige Co-Vorsitzende der Partei, Selahattin Demirtas, ist seit 2016 inhaftiert.

Das angestrebte HDP-Verbot wird auch als Zugeständnis an den MHP-Chef Bahceli gewertet, der seit Langem eine Schließung der Partei fordert. Präsident Erdogan dürfte aber auch schon einen Blick auf mögliche vorgezogene Wahlen haben. Regulär würden diese erst 2023 abgehalten.

Umfragen zufolge verliert Erdogan zunehmend an Unterstützung in der Bevölkerung, ohne die MHP hat seine islamisch-konservative Regierungspartei AKP schon in der aktuellen Legislaturperiode keine Mehrheit im Parlament. Es sei wahrscheinlich, dass die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vorgezogen werden, „wenn Erdogan die wirtschaftlichen Bedingungen dafür reif scheinen“, schreibt etwa Osman Can von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin in einer Analyse. „Doch um vorgezogene Wahlen zu gewinnen, muss die HDP aus dem Spiel genommen werden.“ Bei den vergangenen Wahlen vor drei Jahren hatte die HDP 11,7 Prozent der Stimmen erhalten.

In der rund 850 Seiten langen Anklageschrift fordert der von Erdogan eingesetzte Staatsanwalt laut Anadolu neben dem permanenten Verbot der Partei ein Politikverbot für rund 500 Personen. Die Anwältin Mavis Aydin sagte der Deutschen Presse-Agentur, für welche Politiker dieses gefordert werde, wisse auch die Partei nicht, weil die Anklageschrift ihr noch nicht zugestellt wurde. Einen Antrag auf Sperrung des Bankkontos lehnte das Verfassungsgericht Anadolu zufolge zunächst ab.

Nach Ansicht von Experten kann sich das Verfahren nun über mehrere Monate hinziehen. Das Verfassungsgericht entscheidet dann mit einer Zweidrittelmehrheit - es müssten also zehn von 15 Richtern für ein Verbot stimmen. Bereits im März hatte die Generalstaatsanwaltschaft eine erste Verbotsklage eingereicht. Sie war aber wegen formaler Mängel nicht angenommen worden.

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