Das Rätsel um riesige Mengen eines gefährlichen Treibhausgases über Baden-Württemberg scheint gelöst. Doch jetzt eskaliert der Streit zwischen der Firma und den Behörden.
Die Firma Solvay in Bad Wimpfen kommt nicht aus den Schlagzeilen.
Von Eberhard Wein
Jahrelang hat die Firma Solvay bei Bad Wimpfen teilweise unter den Augen der Behörden offenbar eine riesige Menge eines hochaktiven Treibhausgases in die Atmosphäre gepumpt. Jetzt greift die baden-württembergische Umweltministerin Thekla Walker (Grüne) durch. Das Stuttgarter Regierungspräsidium werde die Maßnahmen, die für drastische Reduzierung des Ausstoßes notwendig seien, per Sofortvollzug anordnen, kündigte die Ministerin an. Zuvor hatte der Chemiekonzern mit Sitz in Belgien eine Klage gegen die Anordnungen der Behörde eingereicht.
„Ich bedaure sehr, dass die Firma nach Monaten der Zusammenarbeit mit den Behörden und der Universität Frankfurt nun auf eine juristische Auseinandersetzung geht“, sagte Walker in Stuttgart. Aktuelle Messungen belegten zwar, dass die Emissionen durch die zwischenzeitlichen Anpassungen an der Anlage seit Juni bereits um vier Fünftel gesunken seien. „Sie liegen aber weiter viel zu hoch und müssen weiter reduziert werden.“ Die hochgerechnete Jahresemission sei um das Zehnfache überhöht. Im Sinne des Klimaschutzes dürfe es keine Verzögerungen geben.
Gefährlichstes Treibhausgas: Solvay-Werk unter Verdacht
Das Gas Schwefelhexafluorid (SF6) ist ungiftig, geruchlos, nicht brennbar und chemisch stabil. Heute findet sich SF6 vor allem als Isolier- und Schutzgas in elektrischen Schaltanlagen der Mittel- und Hochspannungstechnik. Es ist aber 24 000 Mal klimaschädlicher als CO2. Damit ist es das gefährlichste Treibhausgas. Vor einer knappen Woche waren Forschungen der Uni Frankfurt bekannt geworden, die darauf hindeuteten, dass in Südwestdeutschland eine riesige SF6-Quelle besteht. Das Werk in Bad Wimpfen geriet in Verdacht, weil Solvay der einzige Hersteller von SF6 in Europa ist.
In der Zwischenzeit habe sich durch die Arbeit auch unabhängiger Prüfinstitute „nahezu zweifelsfrei ergeben, dass am Standort Bad Wimpfen SF6 in drastisch höherem Maße ausgetreten ist als angemeldet war“, sagte die Stuttgarter Regierungspräsidentin Susanne Bay (Grüne). Anfang November habe man daher eine Anordnung erlassen und konkrete Grenzwerte festgesetzt. Dagegen habe Solvay nun geklagt, offenbar in Hoffnung auf die aufschiebende Wirkung einer solchen Klage. Darauf habe man nun mit dem Erlass des Sofortvollzugs geantwortet. „Sollte Solvay die Anordnung nicht einhalten, werden wir umgehend alle weiteren rechtlich möglichen Schritte einleiten“, kündigte Bay an.
Behörden kämpfen mit fehlenden Grenzwerten für SF6-Emissionen
In einer Mitteilung gibt das Umweltministerium Einblick, warum sich die Bekämpfung der hohen Emissionen so lange hingezogen und erst nach der Veröffentlichung Tempo aufgenommen hat. Für SF6 gebe es keinen spezifischen Grenzwert, auf dessen Einhaltung die Behörde pochen könnte. Ein existierender Summenparameter für gasförmige anorganische Fluorverbindungen müsse in Genehmigungen extra festgeschrieben werden, um Wirkung zu entfalten. Es hätten deshalb zahlreiche offene Fragen zunächst geklärt werden müssen.
„Wir werden uns die Prozesse genau ansehen. Wir brauchen an der Stelle mehr Tempo und auch bessere Instrumente durch konkretere Regelungen in der EU-F-Gaseverordnung oder dem Bundesimmissionsschutzrecht“, sagte Walker. Das Problem: „Scharfe Schwerter bis hin zu Eingriffen in den laufenden Betrieb sind momentan nur zulässig bei akuter Gefahr für Umwelt und Gesundheit.“ Treibhausgase wie SF6 schädigten beides aber nicht akut, sondern mittel- und langfristig. „Das muss das Recht auch abbilden.“
Solvay ließ eine Anfrage dieser Zeitung bis zum frühen Abend zunächst unbeantwortet. Das Unternehmen war mit seinem Werk in Bad Wimpfen zuletzt wegen der Einleitung der Ewigkeitschemikalie Trifluoressigsäure in den Neckar in die Schlagzeilen geraten, die unter anderem die Fortpflanzung von Menschen und Tieren schädigt. Hier hat das Unternehmen mittlerweile eine Einstellung der Produktion zum Jahresende angekündigt.