Wellenreiten hat sich zu einem Trend entwickelt, der Millionen in seinen Bann zieht. Sie setzen sich einer elementaren Erfahrung aus, die oft in ein tiefes Glücksgefühl mündet.
Wellenreiten ist ein Gegenpol zu unserer schnellen, digitalen Welt. Im Wasser ist man nicht erreichbar und am Strand gibt es vielleicht nicht mal Handyempfang oder asphaltierte Straßen. Illustration: KI/Midjournay/Sebastian Ruckaberle
Von Jan Söfjer (Text) und Sebastian Ruckaberle (Illustration)
Ist am Horizont etwas zu sehen? Fünf Surfer sitzen auf ihren Brettern im Meer. Alle schauen in die Ferne. Niemand spricht. Fast zeitgleich legen sie sich auf ihre Bretter und paddeln zügig weiter aufs Meer hinaus. In der Ferne sieht man jetzt eine Wölbung im Wasser, die rasch größer wird. Eine Entscheidung muss her! Folgt man dem prähistorischen Fluchtreflex, der einem zuschreit, so schnell wie möglich zum Ufer zu paddeln? Oder der Welle entgegen? Sie ist nun größer als man selbst und kurz davor, ihre rohe Energie genau an der Stelle zu entladen, an der man sich befindet. Die Wucht würde vielleicht ausreichen, um ein kleines Motorboot zu versenken. Die Surfschüler, die vorhin im Wasser waren, sind zu ihrem Glück alle wieder am Strand.
Die Zahl der Schulen ist in den vergangenen Jahrzehnten drastisch gewachsen. Wellenreiten wird immer populärer, auch hierzulande. Der Deutsche Wellenreitverband schätzt, dass mehr als 300 000 Personen in Deutschland regelmäßig surfen. Die Eröffnung des ersten Surfpools in Deutschland mit einer echten laufenden Welle in München vergangenen Sommer hat den Trend noch einmal verstärkt. 2012 übergab der Weltverband International Surfing Association dem Internationalen Olympischen Komitee ein Dokument, das die Zahl der Surfer weltweit auf rund 35 Millionen bezifferte. Manche Surfer sehen aber in den wachsenden Zahlen auch den Ausverkauf und die Kommerzialisierung eines einstigen Outsider-Lebensstils.
Der Anfang vom Ende der Unschuld, wenn man so möchte, war der 18. Januar 1778, als der englische Kapitän James Cook mit seinen zwei Segelschiffen, der HMS Resolution und der HMS Discovery, Hawaii im Pazifik entdeckte. Die westliche Welt entdeckte damit nicht nur ein Inselparadies, sondern auch den Geburtsort des Wellenreitens. Gesurft wurde zwar auch auf anderen polynesischen Inseln, aber in Hawaii prägte das Wellenreiten Kultur, Kunst und sogar den Glauben. Der Surf-Chronist Matt Warshaw schreibt in seinem Buch „The History of Surfing“, dass Hawaiianer wahrscheinlich ab dem Jahr 1200 den Sport zu einer gemeinschaftlichen Leidenschaft entwickelten. Die Ursprünge des Wellenreitens könnten aber Tausende Jahre zurückreichen. „Diese ursprüngliche Surflust sowie die auf den Inseln erzielten Entwicklungen in Brettdesign und Fahrtechnik machen Hawaii zur Geburtsstätte des Surfens“, so Warshaw.
„Jeder Gedanke an Arbeit ist zu Ende“, wenn es gute Wellen gebe, schrieb laut Warshaw ein hawaiianischer Gelehrter des 19. Jahrhunderts. Es drehte sich alles um das Surfen. Warshaw schreibt: „Das Surfen wurde mit gleicher Begeisterung (und klassengleicher Nacktheit) von Bauern, Kriegern, Webern, Heilern, Fischern, Kindern, Großeltern, Häuptlingen und Regenten praktiziert.“ Auf Hawaii habe die herrschende Klasse allerdings über spezielle Bretter und exklusive Strände zum Surfen verfügt.
Konfrontation mit der Natur und mit sich selbst
James King, ein Marineoffizier, der unter Cook als Leutnant diente, beschrieb das Wellenreiten als einer der Ersten: „Die See ist sehr hoch und die Brandung bricht sich am Ufer. Die Männer, manchmal 20 oder 30, . . . legen sich flach auf ein ovales Stück Brett von etwa ihrer Größe und Breite. [. . .] Sie warten auf den stärksten Wellengang . .. und stoßen sich mit den Armen vorwärts, um auf der Dünung zu bleiben. Sie werden mit erstaunlicher Geschwindigkeit ins Wasser geschleudert. Die große Kunst besteht darin, das Brett so zu lenken, dass es auf der Dünung immer in der richtigen Richtung bleibt. [. . .] Diese Männer sind bei solchen Übungen fast schon amphibisch.“
Bis heute ist das Wellenreiten nicht irgendein Sport. Es ist die Konfrontation mit der Natur, mit der Wildnis, mit sich selbst. Praktisch nirgendwo im Alltag erlebt man dergleichen, spürt seine Grenzen so deutlich. Zum Surfen braucht man Wellen – und Wellen können sehr schnell sehr furchteinflößend sein. Man befindet sich mit seinem Brett oft Hunderte Meter vom Strand entfernt auf dem Meer, mitten in schwerer Brandung. Die rote Flagge am Strand, die anzeigt, dass das Baden verboten ist, ist fast die Grundvoraussetzung für das Surfen. Aber oft surft man irgendwo, wo es keinen Lifeguard gibt. Oft ist man mit anderen Surfern im Wasser, aber dennoch allein und den Wellen ausgeliefert. Andere Surfer mögen im Notfall zu Hilfe kommen – aber vielleicht auch erst dann, wenn es zu spät ist.
In der Brandung verschwinden die Alltagssorgen
Surfen braucht Fitness und mentale Stärke. Das Gute: Je länger man surft, desto stärker wird man körperlich und mental. Man erreicht seelischen Frieden und eine physische und geistige Stärke, die nur in den Wellen geschmiedet werden kann, die wie ein Hammer auf ein Riff schmettern. Inmitten der Brandung in Einklang mit dem Meer und den Wellen wird der Kopf leer, verschwinden die Alltagssorgen. Manche Surfer sagen, sie müssten stundenlang meditieren, um möglicherweise in einen Zustand zu kommen, den man beim Wellenreiten auf ganz natürliche Weise erlebt. Der Surfer ist aufmerksam, spürt die Strömung, spürt, wie das Meer sich bewegt, das Wasser auf der Haut, den Wind, die Sonne, sieht die Möwen, die knapp über der Oberfläche entlanggleiten. Wie in Trance sitzt man über Minuten oder gar Stunden hinweg auf seinem Brett. Inmitten der Schöpfung – ob man nun gläubig ist oder nicht. Die Natur ist ein Wunder. Und ebenso die Welle.
Die Welle wird größer und größer, während sie auf den Surfer zurast. Er paddelt mit ihr, um sich an ihre Geschwindigkeit anzugleichen. Die Welle hebt das Brett von hinten hoch und saugt das Wasser vor ihr an. Der Surfer steigt schnell bedrohlich hoch, vor ihm öffnet sich ein steiler Abgrund. Jetzt kommt das Commitment, jetzt zählt Entschlossenheit. Wer hier zögert, verpasst die Welle oder stürzt und schlägt auf dem Wasser auf und wird von der Walze unter Wasser mitgerissen, bis sie ihren Griff löst. Doch wer gleichzeitig entschlossen und ruhig bleibt, gleitet in die Welle hinein, springt auf die Füße, schießt mit dem Brett nach unten und fährt an der Wellenwand entlang.
Die rohe Energie des Meeres
Man gleitet beim Wellenreiten nicht einfach über das Wasser, s ondern man reitet die rohe Energie des Meeres. Man ist Teil einer Energie, die im Kosmos geboren wurde, im Licht unseres Sterns, unserer Sonne, die mit ihren Strahlen Teile der Erde erwärmt und durch die Druckunterschiede schwere Stürme erzeugt, die über Tage das Meer in gewaltigen Wellen aufwühlt. So lange, bis die Wellen nicht mehr größer werden können und die Energie unter Wasser gespeichert wird, wo sie Hunderte Meter tief selbst Wale spüren. Diese Energie reist Tausende von Kilometern durch den Ozean, bis sie nahe dem Ufer auf flachen Grund trifft und sich aus dem Meer erhebt. Sie bäumt sich auf, wirft sich nach vorne und entlädt sich in ihrer ganzen Kraft. An genau dieser Kante, an dieser Stelle steigt der Surfer in die Welle ein, wird Teil von ihr und eins mit dem Meer. Er gleitet mal ruhig dahin, mal schießt er wie ein Torpedo vorwärts. Mal ist die Welle freundlich und sanft, mal ein unzähmbares Biest.
William Finnegan, der für seine Surfer-Autobiografie „Barbarentage“ den Pulitzer-Preis erhielt, hatte, nachdem er besonders starke hohl brechende Wellen gesurft oder besonders schwere Stürze in den Wellen erlebte, manchmal „die wilde Neigung zu weinen, was Stunden andauern konnte. Es war wie die Bandbreite der starken Gefühle, die auf Sex mit tiefstem Herzen folgen können“.
Wellenreiten ist ein Gegenpol zu unserer schnellen, digitalen Welt. Im Wasser ist man nicht erreichbar und am Strand gibt es vielleicht nicht mal Handyempfang oder asphaltierte Straßen. Während der Surfsession verschwindet man, ist allein mit sich, dem Brett und dem Meer.
In Hawaii endete damals der Beginn vom Ende des freien Lebens, als ein paar Jahrzehnte nachdem James Cook die Inseln entdeckt hatte, christliche Missionare dorthin kamen. Ihnen gefiel nicht, dass die „Wilden“ nackt surften. Die christlichen Eiferer sorgten dafür, dass die Hawaiianer Kleider trugen und arbeiteten. Westliche Krankheiten dezimierten die hawaiianische Bevölkerung drastisch. Das Wellenreiten drohte auszusterben. Später, im 20. Jahrhundert entwickelte sich Hawaii zum Urlaubsort für wohlhabende Amerikaner – nachdem die USA Hawaii 1898 annektiert hatten. Surf-Motive zierten die Reiseplakate.
Die Wiederentdeckung des Surfens
Heute hat sich Surfen zu einem Trendsport entwickelt und bleibt doch zugleich ein höchst individuelles Abenteuer. Viele haben schon einmal ein Surfcamp besucht. Man muss nicht mehr einen Flug ins Unbekannte buchen und sich durchfragen, um einen Surfspot zu finden. Man sieht einen Social-Media-Beitrag eines Freundes, hat Gefallen daran und bucht alles mit wenigen Klicks.
Lange vor Social Media hat der Schriftsteller Jack London wohl als Erster einen Magazinbeitrag über das Wellenreiten verfasst und diesen Sport damit in die Öffentlichkeit gebracht. 1907 segelte er mit seinem Schiff nach Hawaii und probierte dort das Wellenreiten selbst aus. Danach verfasste er mit „Ein königlicher Sport“ einen Essay über das Surfen.
London saß am Strand von Waikiki und fühlte sich „klein und zerbrechlich angesichts dieser gewaltigen Kraft“ der Wellen: „Eine halbe Meile weiter draußen, dort, wo das Riff ist, drängen aus dem stillen Türkisblau unversehens die weiß gekrönten Brecher himmelwärts und wälzen sich aufs Ufer zu. [. . .] Die Vorstellung, sich mit diesem Meer messen zu wollen, löst unwillkürlich einen Schauder der Beklommenheit, fast der Angst aus.“
Dann beschreibt London, wie aus „sprudelnder und stampfender Gischt“ der Kopf eines Mannes auftaucht. „Rasch erhebt er sich aus dem stürzenden Weiß. Seine schwarzen Schultern, seine Brust, seine Hüfte, seine Lenden, seine Glieder – mit einem Mal zeichnet sich alles vor den Augen ab. Wo einen Moment zuvor nur grenzenlose Verlassenheit und unerschütterliches Gebrüll war, ist nun ein Mensch, aufrecht, in voller Statur, der nicht verzweifelt kämpft in dem reißenden Strom, der nicht begraben und zerstampft und umhergeschleudert wird von diesen mächtigen Monstern, sondern der über ihnen allen steht; ruhig und erhaben schwebt er über dem taumelnden Gipfel“. Und weiter heißt es: „Er ist gelassen, bewegungslos wie eine Statue, die geformt wurde durch ein plötzliches Wunder aus den Tiefen des Meeres, denen er entstieg.“
Das Wellenreiten war nicht länger ein geheimer Sport.