Vor 30 Jahren töteten serbische Militärs und Polizisten mehr als 8000 Muslime. Die UN wollten den Genozid verhindern.
Amina Mustafic trauert um ihren Sohn Enis, den serbische Soldaten 1995 bei Srebrenica erschossen. Seine Leiche wurde erst 2014 gefunden und identifiziert.
Von Franz Feyder
Der Oberleutnant und der Feldwebel der britischen Elitetruppe SAS hatten ihre Gewehre durchgeladen, ihren Jeep getarnt. Der Laserentfernungsmesser waren aufgestellt. Die Ultrahochfrequenz 291.000 Megahertz am Funkgerät eingestellt. Die Serben konnten kommen: Auf ihre Angriffsspitzen würden die beiden Kommandosoldaten Luftangriffe von Nato-Jagdbombern dirigieren.
Egal, wo der serbische General Ratko Mladic seine Soldateska in diesen Tagen Anfang Juli 1995 auf das bosnische Srebrenica angreifen lassen würde: Die beiden britischen Aufklärer würden es sehen – und sie bekämpfen. Genau das hatten die Vereinten Nationen (UN), die Gemeinschaft der Völker, den bosnischen Muslimen versprochen, als sie im April 1993 die Stadt mit den Silberbergwerken unter ihren Schutz stellte.
Der UN-Sicherheitsrat erlaubte den kanadischen Blauhelmen in der damals 13 500 Einwohner zählenden Kleinstadt, sie mit Waffengewalt zu verteidigen, die Resolutionen 824 und 836 gewaltsam nach Kapitel VII der UN-Charta durchzusetzen. Auch wenn die tatsächlich nach Srebrenica entsandten Truppen nur leicht bewaffnet waren. Und ihnen ihre Einsatzregeln lediglich erlaubten, nur zu ihrer Selbstverteidigung zu schießen. Als die Horden Mladics mordend, folternd und vergewaltigend durch den Osten Bosniens zogen, wurde Srebrenica zum schützenden Hafen für zehntausende bosnischer Muslime. Mehr als 36 000 sollen es im Sommer vor 30 Jahren gewesen sein.
Sechs solcher Schutzzonen hatten die UN für Muslime ausgerufen: Außer Srebrenica auch in Bihac, Gorazde, der Hauptstadt Sarajevo, Tuzla und Zepa. 34 000 gut ausgerüstete und ausgebildete Soldaten hatte der damalige UN-Generalssekretär Boutros Boutros-Ghali zur Verteidigung der sicheren Häfen von der Völkergemeinschaft gefordert. 7600 leicht bewaffnete Infanteristen hatte der Sicherheitsrat bewilligt – für alle sechs Zonen. Die Folge: Die „United Nations Protection Force“ (UNPROFOR) – die UN-Schutztruppe für Bosnien – konnte und sollte nichts verteidigen. Die Blauhelme sollten lediglich beobachten und melden.
So eskalierte die Lage zwei Jahre lang um Srebrenica herum: Die 5500 bosnisch-muslimischen Verteidiger der 28. Division hatte ihre Panzer und Haubitzen weitgehend den UN übergeben, wie es die Serben gefordert hatte. Weigerten sich aber, ihre Waffen vollständig abzugeben. Statt wie vereinbart ihre um die Schutzzone aufmarschierten, schwer bewaffneten Truppen abzuziehen, bauten die 6000 Soldaten des serbisch-bosnischen Drina-Korps ihre Stellungen aus. Sie wurden laufend verstärkt und blockierten die Hilfskonvois der UN, die die Menschen in Srebrenica versorgen sollten.
Hunger herrschte in der Stadt, Krankheiten grassierten. In seiner geheimen „Direktive 7“ befahl der bosnisch-serbische Präsident Radovan Karadzic seinem Feldherrn Ratko Mladic im März 1995, „eine unerträgliche Lage voller Unsicherheit“ für Srebrenica und das benachbarte Zepa zu schaffen, die Städte zu zermürben und auszuhungern.
Ein niederländisches Bataillon (DutchBat) hatte die Kanadier in Srebrenica abgelöst: 400 Infanteristen, die mit 16 Transportpanzern vom Typ YPR-765 ausgestattet waren. Schutz bot die Blechkiste allenfalls gegen Gewehrbeschuss, nicht aber gegen das Feuer von Mörsern, Artillerie oder gar Panzern. Die 25-mm-Maschinenkanone des YPR war die schwerste Waffe des DutchBat – wirksam nur gegen ungepanzerte Fahrzeuge oder Infanterie. Selbst durch die Serben von der Versorgung abgeschnitten, waren die Tanks der niederländischen UN-Fahrzeuge nahezu leer: Das Benzin reichte noch für 70, 80 Kilometer.
Zudem hatten bosnisch-serbische Soldaten nach einzelnen Luftangriffen der Nato Hunderte Blauhelme als Geiseln genommen, an ihre Munitionsdepots und Stellungen gekettet. Bei den Vereinten Nationen in New York gab es kaum noch jemanden, der die bosnischen Schutzzonen verteidigen wollte. Auch wenn die militärischen Berater des UN-Generalsekretärs drängten, die leichtbewaffneten Niederländer in Srebrenica durch skandinavische Blauhelme zu ersetzen: Ausgerüstet mit modernen schwedischen Schützenpanzern und zehn dänischen Kampfpanzern vom Typ Leopard 1A5.
Sie waren gefürchtet, nachdem sie sich im April 1994 ein kurzes, aber intensives Gefecht mit der bosnisch-serbischen Armee bei Kalesija in Nordbosnien geliefert hatten: 150 Serben sollen dabei getötet worden sein, ihre Geschütze vollständig zerstört. Die Skandinavier hatte nicht einmal einen Kratzer abbekommen. Der niederländisch-skandinavische Ringtausch wurde verboten, während sich in New York von Woche zu Woche die Beweise für einen bevorstehenden serbischen Angriff mehr stapelten: Luft- und Satellitenaufnahmen zeigten, wie die Serben Munition herankarrten und Schneisen für ihre Panzer in die Wälder schlugen.
Der Kommandeur der 28. bosnisch-muslimischen Division, Naser Oric, hatte Srebrenica mit seinen Offizieren im Frühjahr auf Schleichwegen verlassen – was die Verteidiger noch mehr demoralisierte als die serbische Belagerung: mit wenig Munition und schlecht geführt waren sie kein Gegner für die Serben, die am 6. Juli angriffen.
Die beiden SAS-Aufklärer verzweifelten in Srebrenica: Sie meldeten Ziele, forderten einen Luftschlag nach dem anderen – und nichts geschah. Die serbische Soldateska überrannte die fünf niederländischen Beobachtungsposten, trieben die muslimischen Kämpfer in eine chaotische Flucht. Die Hilfsappelle des niederländischen Kommandeurs, Oberstleutnant Tom Karremans, verhallten ungehört bei der UN-Führung: Erst am 11. Juli – dem Tag, als Srebrenica fiel – stiegen zwei niederländische F-16-Jagdbomber auf und zerstörten einen serbischen Kampfpanzer. Mladić drohte: Sollte es weitere Angriffe geben, würde er nicht nur bereits gefangenen UN-Soldaten töten, sondern auch die zu Karremans Hauptquartier geflohenen Muslime beschießen lassen.
Was in den folgenden Tagen geschah, ging als Völkermord von Srebrenica in die Geschichte ein. Vom 11. bis 19. Juli 1995 ermordeten Mladics Horden unterstützt von Polizisten und serbischen Paramilitärs 8372 muslimische Männer und Jugendliche im Alter zwischen 16 und 65.
Systematischer und lange geplanter Völkermord
Der Genozid war systematisch vorbereitet und geplant: Die Enklave war noch nicht vollständig eingenommen, da trennten die Serben gewaltsam Männer von den Frauen, verluden sie unter den Augen der Blauhelme in Busse und auf Lastwagen, um sie zu Hinrichtungsstätten zu fahren. Sofort nach ihrem blutigen Werk versuchten die Täter, ihre Spuren zu verwischen: Sie verscharrten die Leichen in Massengräbern. Als die Vereinten Nationen kurze Zeit später davon Luftbilder veröffentlichten, wurden viele Gräber wieder geöffnet, die Leichen exhumiert und in entlegenere Zweitgräber gebracht.
„Politische Entscheidungen auf Ebene der UN- und der Nato – geprägt von Zögern, nationalen Egoismen und Angst vor Risiken – ließen eine als Schutzzone deklarierte Stadt schutzlos zurück“, schrieben die Richter des Den Haager Kriegsverbrechertribunals in die Urteile über die bosnisch-serbischen Anführern Radovan Karadzic und Ratko Mladic. Die Völkergemeinschaft hatte versagt.