Vom prallen Leben der Sozialarbeit

Titus Simon stellt mit Weggefährten und Kollegen Berufsgeschichte und besondere Herausforderungen in einem Erzählband vor

Der Titel markiert das Feld jenseits möglicher Illusionen: „Schwere Arbeit“ heißt das Buch, das Titus Simon herausgegeben hat und dessen Untertitel präzisiert – „Erzählungen vom gelingenden Beziehungsaufbau zu schwer zugänglicher Klientel“. Die Beiträge geben Einblick in ganz unterschiedliche Bereiche der sozialen Arbeit. Das ist auch für Leser außerhalb des Berufsfelds spannend, da der Band nicht nur viele Lebenswelten skizziert, sondern auch Aspekte von Lebenskunst und Beziehungsarbeit thematisiert.

Vom prallen Leben der Sozialarbeit

Titus Simons Zeiten als Professor für Jugendarbeit und Jugendhilfeplanung an der Hochschule Magdeburg-Stendal und damit auch die häufigen Zugfahrten von Murrhardt nach Magdeburg sind zwar passé, aber einzelne Arbeiten betreut er immer noch. Sein Projekt, Beiträge für den Band „Schwere Arbeit“ zusammenzustellen, hat ihm viel Spaß gemacht. Foto: J. Fiedler

Von Christine Schick




MURRHARDT. „Das Buch war ein tolles Projekt für mich, angesiedelt zwischen Belletristik und dem Fachgebiet der sozialen Arbeit“, sagt Titus Simon. Mittlerweile als Professor im Ruhestand traf seine Idee, die Sozialarbeit anhand von Beiträgen verschiedener Kollegen, Weggefährten bis hin zu Vorbildern auszuleuchten, beim Verlag Beltz Juventa sofort auf Interesse. So spiegeln sie einerseits die Entwicklung der Profession über rund 60 Jahre wider.

Andererseits schätzt Titus Simon, der in seiner Laufbahn auch viele Fachbücher herausgegeben hat, den Zugang jenseits einer rein wissenschaftlichen Abhandlung. „Es gibt viele Dinge, die sich über Erzählungen gut fassen und weitergeben lassen. Sie tauchen in der Fachwelt nicht auf, sind aber genauso wichtig“, sagt er.

„Eine Reihe von Ansprechpartnern hatte ich schon im Kopf“

Dabei spielt auch eine Rolle, dass Simon bereits als gestandener Praktiker an die Hochschule kam, zuvor in der offenen Jugendarbeit tätig war und mit gewaltorientierten Jugendcliquen, Wohnungslosen und in Verbänden gearbeitet hat. „Eine Reihe von Ansprechpartnern hatte ich schon im Kopf“, erzählt er. Menschen, die ihm aus den einzelnen beruflichen Stationen von 1974 bis heute nachhaltig in Erinnerung geblieben sind, hat er um kurze Beiträge gebeten.

So erzählt Bernd Klenk beispielsweise von einer Episode seiner Arbeit mit Jugendlichen, die sich an den Hörschbachwasserfällen in Murrhardt abspielt. Das, was für Außenstehende vielleicht zu Beginn wie eine fragwürdige erlebnispädagogische Aktion – er stellt sich mit einem Jugendlichen im Winter unter den Wasserfall – wirkt, schlüsselt der Autor genau auf und steckt damit sein Gebiet ab. An manchen Stellen ähnelt seine Arbeit der eines Fährtensuchers und Animateurs, er versuchte die Sehnsucht der Jugendlichen nach Lebendigkeit in gute Bahnen zu lenken, und fragt sich, ob das Erlebte positive Auswirkungen hatte. Sein Fazit: Einen Versuch war es allemal wert. Ebenso Winfried Dahlen, der von seiner turbulenten Arbeit im Ludwigsburger Jugendhaus Villa 5 Mitte der 1970er-Jahre berichtet, beschäftigt diese Frage. Er zitiert eine Besucherin, die als Einzelne wichtige Erfahrung in der Gruppe habe sammeln können, sowie einen weiteren ehemaligen Jugendhausgänger, der „nie mehr in seinem Leben eine solche Fülle an unterschiedlichen Menschen kennengelernt“ habe.

Ebenso spannend ist der Abriss von Beate Blank, die in drei Szenen über ihre Arbeit unter anderem mit obdach- und wohnungslosen Frauen sowie Langzeitarbeitslosen auch ihre Haltung zu fassen versucht. „Alles Handeln und Nichthandeln sollte von einer brennenden Geduld getragen sein; eine, die nichts erwartet und doch alles für möglich hält.“

Titus Simon selbst gibt einen Einblick in seine Zeit im Jugendtreff Bietigheim, bei der er auch mit gewaltbereiten Cliquen arbeitet. Er beschreibt den Balanceakt zwischen Einfühlungsvermögen und robustem Auftreten gegenüber den Jugendlichen und jungen Erwachsenen genauso wie den Umgang mit eigenen Fehlern. Hoffnungsvoll stimmt einen, dass sonst nicht so handzahme junge Menschen sich in einer ernsten Situation vorbildlich und rücksichtsvoll verhalten.

Wie solch eine Arbeit in Hamburg in der Rockerwelt aussieht, umreißt Jörg Kraußlach. Vor dem kirchlichen Hintergrund seines Arbeitgebers von seiner Klientel als „Merkwürden“ oder „Himmelskomiker“ aufs Korn genommen, sieht er sie auch als seine Lehrer an und setzt auf das gegenseitige Geben und Nehmen.

Harald Huber, der einmal die (frühere) Erlacher Höhe geleitet hat, beschreibt, wie er sich im Ruhestand in der Flüchtlingsarbeit engagiert. Das Schicksal einer kurdischen Familie und ihres unglaublich langen Wegs bis zur Anerkennung des Asylverfahrens lässt einen erahnen, wie tief er dabei einsteigt.

Der Ansatz von Ekkehard Felis, das Sinnhafte im vermeintlichen Unsinn zu entdecken, könnte auch dabei helfen, ein Stück weit nach sich zu schauen, sich abzugrenzen und mithilfe von kreativen Ansätzen eine gewisse Leichtigkeit und neue Perspektiven in die Arbeit zu bringen, wie Titus Simon es im Gespräch über das Buch beschreibt. Felis hat gemeinsames Musikmachen, Malgruppen oder Hörspielprojekte als neue Zugänge ausprobiert. Auch seine systemische Ausbildung hat ihm einen anderen Blick auf problematische Lebenssituationen ermöglicht.

Es finden sich weitere spannende Facetten schwerer Arbeit im Band inklusive des Beitrags von Johanna Simon, der Tochter des Herausgebers, die eine heutige Beratungssituation beschreibt. Geduld und der unaufgeregte Blick helfen ihr, im entscheidenden Moment zu erkennen, an welchem Punkt sie ansetzen kann.

Zwar lässt sich aus den Beiträgen auch herauslesen, wie sich das Berufsfeld professionalisiert hat, und Titus Simon bestätigt den Anspruch der Wissenschaft, immer wieder Innovationen zu entwickeln. Generelle, schon lange gültige Regeln für eine gute Praxis haben sich seiner Ansicht nach aber genauso gehalten. Zu ihnen gehört ein gelingender Beziehungsaufbau. Er bietet die Voraussetzung für das, was die Fachleute als Interventionsberechtigung bezeichnen, sprich sich einzumischen, um eine andere, neue Richtung vorzugeben. Ebenso zentral für ihn: die Balance zwischen Nähe und Distanz zu halten und sich selbst zu reflektieren.

Kritischer Blick auf Entwicklungen an den Hochschulen

Weil soziale Arbeit belastend sein kann – nicht jeder muss in die harten Bereiche wie die Betreuung von Wohnungslosen, Aidskranken oder rechten Cliquen gehen, aber auch nicht jeder hat die Möglichkeit, in einer Beratungsstelle zu arbeiten –, sollte die Ausbildung so gut wie möglich auf den Beruf vorbereiten. Insofern hofft Titus Simon, dass die soziale Arbeit weiterhin ihren Stellenwert behält. Die Entwicklungen an den Hochschulen und in der Bildungslandschaft in diesem Zusammenhang betrachtet er kritisch. „Zurzeit ist der Markt leer gefegt.“ Am Bedarf gemessen gebe es zu wenig Absolventen. Er befürchtet, dass sich die Qualität der Ausbildung verschlechtert – Anzeichen seien eine Tendenz zur Beschleunigung und Privatisierung mancher Studiengänge sowie Aufweichung der staatlichen Anerkennung/Verankerung.

Mit Blick auf die „Schwere Arbeit“ muss auch der einzelne Berufstätige auf sich achten, um im Alltag zu bestehen und gesund zu bleiben. „Wichtig ist, sich selbst immer wieder zu hinterfragen und sich nicht von der Routine erschlagen zu lassen. Auch wenn man erfahren ist, heißt das nicht, dass man immer richtig handelt“, sagt Titus Simon.

Info
Stiftung profitiert

Titus Simon (Herausgeber): Schwere Arbeit. Erzählungen vom gelingenden Beziehungsaufbau zu schwer zugänglicher Klientel. Verlag Beltz Juventa, Weinheim 2020, 19,95 Euro; ISBN: 978-3779961345.

Die Autoren spenden ihre Honorare und den Gewinn an die Stiftung Lebenswert, die von den beiden diakonischen Einrichtungen Erlacher Höhe und Dornahof gegründet worden ist.