Es gärt in der Union

Vom Stabilitätsanker zum Unruheherd

Wir analysieren, woher die Aufgeregtheit in der Unionsfraktion kommt und was das mit Friedrich Merz zu tun hat.

Vom Stabilitätsanker zum Unruheherd

Einsame Entscheidungen sorgen nicht für Gefolgschaft: Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU).

Von Norbert Wallet

Das kennt man so nicht von der Union und ihrer Bundestagsfraktion. Der Partei haftet gelegentlich die Bezeichnung „Kanzlerwahlverein“ an. Das ist zwar oft leicht despektierlich gemeint, aber es schwingt da auch Anerkennung mit. Tatsächlich gehörte es in all den Jahrzehnten bundesrepublikanischer Nachkriegspolitik zur christdemokratischen Grundüberzeugung, dass der Laden irgendwie laufen muss und dazu gehören auch stabile Mehrheiten im Parlament. Dafür hat in der Regel die Fraktion zuverlässig gesorgt, auch in stürmischen Zeiten: etwa als Mitte der 80er-Jahre das Gemäkel an Bundeskanzler Kohl laut wurde oder als Angela Merkels Flüchtlingspolitik in der Partei sehr umstritten war.

Der Start in die neue Wahlperiode mit dem CDU-Kanzler Friedrich Merz an der Spitze verläuft dagegen nicht nach dem bekannten Muster. Während die SPD auch unbequeme Beschlüsse mit knirschenden Zähnen mitträgt, zum Beispiel der gestoppte Familiennachzug für Schutzsuchende, wird in der Unionsfraktion wiederholt offen Ärger laut. Das war beim erfolgreichen Aufstand einer größeren Fraktionsminderheit gegen die Richterkandidatin Frauke Brosius-Gersdorf der Fall. Und gegen die Merz-Entscheidung des Stopps der Waffenlieferungen an Israel zeigt sich erneut offener Widerspruch.

Der Führungsstil des Kanzlers

Ein Grund für die Unruhe in der Fraktion liegt direkt bei Friedrich Merz. Dessen Führungsstil ist dem von Gerhard Schröder näher als dem der beiden Vorgänger Angela Merkel und Olaf Scholz: Wie schon Schröder, neigt Merz zu spontanen und einsamen Entschlüssen, die selbst die eigenen Reihen überraschen. Das war schon bei der höchst umstrittenen gemeinsamen Abstimmen mit der AfD vor der Bundestagswahl zu beobachten. Die Abgeordneten waren damals nicht nur in der Sache irritiert, sondern auch sauer darüber, dass sich damit das Thema des gesamten Wahlkampfes änderte, der doch eigentlich ein Wirtschaftswahlkampf sein sollte. Genau so überrascht zeigten sich die Unionsabgeordneten von der plötzlichen Bereitschaft des Kanzlers, milliardenschwere Sondervermögen einzurichten und sogar die Schuldenbremse, eigentlich ein Markenkern der Union, zur Disposition zu stellen. Ohne Beratung mit den Außenpolitikern erfolgte nun auch die wichtige Israel-Entscheidung – mit den entsprechenden Reaktionen der sich übergangen fühlenden Fachpolitiker der Union.

Die Schwäche des Fraktionschefs

Für die Kanzler-Gefolgschaft ist der Fraktionschef zuständig. Das erledigte bis zur Selbstverleugnung Wolfgang Schäuble für Helmut Kohl und auch Volker Kauder für Angela Merkel. Beide hatten dazu die nötige Autorität. Bei Jens Spahn liegen die Dinge anders. Denn Spahn ist kein Mann aus der Mitte der Partei, sondern Zeit seiner Laufbahn nicht nur einzelgängerisch unterwegs, sondern auch ein dezidierter Frontmann des wirtschaftsliberalen Flügels. Das schafft bei vielen in der Fraktion eine gewisse Distanz. Zudem zeigt die Maskenaffäre Wirkung auf die Fraktion. Viele sehen erhebliche Fehler bei Spahn. Nicht in der Parteimitte verankert und politisch angeschlagen: So kann man die Fraktion kaum von vorne führen. Es ist auffallend, dass in Sachen Israel der Ordnungsruf nicht von Spahn kam, sondern vom Parlamentarischen Geschäftsführer Steffen Bilger.

Dobrindt ist nicht mehr Chef der CSU-Landesgruppe

Alexander Dobrindt ist nicht mehr der CSU-Landesgruppenchef. Dobrindt konnte CSU-Interessen nachhaltig vertreten, war aber stets konsensorientiert. Vor allem hatte er seine Landesgruppe im Griff. Sein Nachfolger Alexander Hoffmann besitzt bislang noch nicht solche Autorität: Das heftige „Nachtreten“ des CSU-Außenpolitikers Stephan Mayer gegenüber der Merz-Entscheidung wäre wohl unter Dobrindt so nicht wahrscheinlich gewesen.

Die Identitätskrise der CDU

Die Unionsfraktion ist politisch und kulturell vielstimmiger geworden. Das liegt auch daran, dass die Partei längst keinen geschlossenen Markenkern mehr hat. Wehrpflicht, Atomkraft, Bindung an die USA: viele konservative Stützpfeiler sind ins Wanken geraten. Es ist für die Abgeordneten nicht mehr so einfach wie früher, zu sagen, wofür die Partei steht. Deshalb die Empörung, wenn wieder Tafelsilber vermeintlich zum Ausverkauf steht: das gilt für die Frage der Abtreibung und der Richterwahl genauso wie nun bei der Solidarität mit Israel.