Von Atomriesen umzingelt

Die Nato-Antwort auf die russische Wiederaufrüstung ist richtig – aber was heißt das für Deutschland?

Von Christoph Reisinger

Das macht Europa gewiss nicht sicherer: Der INF-Vertrag über die Verbannung landgestützter atomarer Mittelstreckenwaffen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometern aus Europa ist Geschichte. Damit übrigens so gut wie alles, was von den Vereinbarungen zwischen den USA und der Sowjetunion beziehungsweise Russland über Rüstungsbegrenzung aus den vergangenen 50 Jahren übrig geblieben ist.

Den Nato-Verteidigungsministern bleibt nur, ihre gemeinsame, zurückhaltende und besonnene Antwort auf die russische Wiederaufrüstung mit atomwaffenbestückten Mittelstrecken-Marschflugkörpern zu bestärken: Die USA werden mit der Entwicklung nicht atomar bewaffneter Mittelstreckenwaffen und ihrer Stationierung in Europa antworten. Auf der Münchener Sicherheitskonferenz am Wochenende kann es dann nur darum gehen, um mehr russisches Verständnis zu werben, dass eine Kontrolle von atomaren Massenvernichtungswaffen auch in Moskaus Interesse läge. Immerhin hat der INF-Vertrag zur Zerstörung von rund 3000 Mittelstreckenwaffen geführt. Obendrein zu Entwicklungs- und Flugtestverboten und Vertrauen schaffenden Kontrollmöglichkeiten.

Richtig wäre der Weg gewesen, darauf aufzubauen und wenigstens einige der Neu- und Möchtegern-Atommächte so weit wie möglich in diese Errungenschaften einzubeziehen. Werbend, hie und da auch mit Druck. Grundvoraussetzung wäre ein Minimum an russisch-amerikanischer Gemeinsamkeit gewesen. Die gibt es leider nicht. Kanzlerin Angela Merkel und Außenminister Heiko Maas gebührt das Verdienst, in den letzten Monaten eine Vermittlung ernsthaft betrieben zu haben.

Das Beunruhigendste an ihrer Erfolglosigkeit ist: Sie fällt in eine Phase, in der immer mehr – zum Teil heftig verfeindete – Staaten und fragwürdige Regimes über Mittelstrecken-Atomwaffen verfügen. Die sind deutlich präziser, kleiner und produzieren weniger radioaktiven Fallout als ihre Vorgänger vor 40 Jahren. Was nur auf den ersten Blick nach Fortschritt aussieht, in Wirklichkeit die Schwelle zu ihrem Einsatz senkt.

Europa mag sich damit trösten, dass die Gefahr eines Atomkrieges heute im Süden und Osten Asiens viel größer ist als hier. Aber in Globalisierungszeiten wären auch Konflikte diesen Ausmaßes möglicherweise sehr rasch globalisiert.

Vor diesem Hintergrund hat die russische Wiederaufrüstung langfristig zwar den üblen Effekt, dass sie die seit dem Jahr 2000 auch von amerikanischer Seite geschwächte Rüstungskontrolle vollends aushöhlt. Kurzfristig allerdings wirkt sie sogar plausibel. China und alle nuklearen Emporkömmlinge können mit ihren Mittelstreckenwaffen russisches Gebiet treffen – das solchermaßen umzingelte Russland mit seinen neuen Systemen aber auch alle diese Staaten plus das europäische Nato-Gebiet. Daraus erwächst ein beängstigendes Druckpotenzial. Zumindest, wenn die Nato darauf nicht einig und nicht glaubwürdig reagiert.

Für Deutschland gilt in dieser Lage: trotz aller Rückschläge für eine Rückkehr zur Kontrolle atomarer Rüstung werben, die Reihen in der Nato geschlossen halten und so weit zur Glaubwürdigkeit ihrer Abschreckung beizutragen, wie das für Nicht-Atomwaffen-Besitzer eben geht. Etwa durch Deutschlands nukleare Teilhabe auch über 2025 hinaus, die derzeit massiv infrage steht. Ein Schielen auf Frankreichs Atommacht ist dazu keine Alternative. Bezeichnend erwähnt der nagelneue Aachener Vertrag zwar viele deutsch-französische Beistandspflichten. Aber keine Silbe zu Frankreichs Atomwaffen.

christoph.reisinger@stuttgarter-nachrichten.de