Von der Gefängniszelle in die WG

Der gemeinnützige Verein Präventsozial aus Stuttgart unterstützt Straffällige dabei, in der Gesellschaft wieder Fuß zu fassen. Er möchte Hilfe zur Selbsthilfe leisten. Der erste Schritt dorthin ist oft das betreute Wohnen. Auch im Rems-Murr-Kreis bietet Präventsozial zwei Wohngruppen an.

Von der Gefängniszelle in die WG

Was diese Gefängniszelle mit dem betreuten Wohnen gemein hat? Der Tagesablauf dort hat eine feste Struktur. Symbolbild: stock.adobe.com/lettas

Von Melanie Maier

Rems-Murr. Der Lebensweg von Herrn K. schien vorgezeichnet. Als Kind hatte er es nicht einfach. Als Jugendlicher konnte er mit seinen Aggressionen nicht umgehen. Wenn er abends oder am Wochenende mit Freunden unterwegs war, der Alkohol floss, klärte er Meinungsverschiedenheiten stets mit den Fäusten. Eine Zeit lang kam der heute 31-Jährige damit durch. 18 Jahre alt war er, als er in Haft kam: 375 Tage wegen Körperverletzung und Sachbeschädigung. „Es war keine Überraschung“, sagt Herr K. heute. „Ich hätte schon viel früher rein müssen. Es waren sehr viele Sachen, die ich gemacht habe. Irgendwie habe ich meinen Kopf immer aus der Schlinge gezogen.“ Froh ist er darüber, dass seine Taten keine langfristigen Folgen hatten, niemand für immer körperliche Schäden davongetragen hat. „Es mag komisch klingen, aber ich bin froh, dass ich da drin war“, sagt er mit fester Stimme. „Sonst hätte ich später vielleicht noch viel schlimmere Dinge gemacht.“

Es ist ein heißer Tag. Herr K. sitzt in einem T-Shirt und einer kurzen schwarzen Hose auf der Terrasse eines Wohnhauses in Waiblingen-Hohenacker. Darin befindet sich eine der zwei betreuten Wohngruppen, die der gemeinnützige Verein Präventsozial aus Stuttgart im Rems-Murr-Kreis anbietet. Herr K. wohnt in der anderen, in Neustadt. Dort hat er ein Zimmer für sich, Küche und Bad teilt er sich mit einem Mitbewohner. Im Land- und Amtsgerichtsbezirk Stuttgart, zu dem die Landkreise Rems-Murr, Stuttgart und Esslingen gehören, hat Präventsozial insgesamt sieben Wohngruppen . Auch eine Betreuung im eigenen Wohnraum bietet der Verein an, alles in allem sind es mehr als 90 Betreuungsplätze. Sie sind gedacht für Straffällige oder von Straffälligkeit bedrohte Menschen, die darüber hinaus Schwierigkeiten wie zum Beispiel Schulden oder eine Suchtproblematik haben.

Sowohl die Wohngruppen als auch der private Wohnraum sind ambulant betreut: Ein Sozialarbeiter oder eine Sozialarbeiterin kommt von Montag bis Freitag tagsüber und hilft beispielsweise bei Arztbesuchen, beim Schreiben von Bewerbungen oder bei Behördengängen. Außerdem hilft er oder sie dabei, Bewährungsauflagen zu erfüllen, wenn sie vorhanden sind. Nachts und am Wochenende sind die Bewohner normalerweise auf sich gestellt, wobei in dringenden Fällen ein Ansprechpartner erreichbar ist.

Die Häuser befinden sich mitten im Wohngebiet. In den Nachbargärten des Hauses in Waiblingen-Hohenacker sind Trampoline aufgestellt, dort wachsen Pfingstrosen, auf der Straße fahren Kinder auf dem Tretroller. „Es funktioniert nicht, wenn die Häuser im Industriegebiet sind. Es geht um die Reintegration in die Gesellschaft“, erklärt Sabine Kubinski, Sprecherin von Präventsozial. In einer ganz normalen schwäbischen Nachbarschaft werde zum Beispiel darauf geachtet, dass alle pünktlich die Kehrwoche erledigen. Und dass keine ausufernden Partys stattfinden. Aus diesem Grund setzt Präventsozial die Gruppen möglichst heterogen zusammen – um zu vermeiden, dass zum Beispiel zwei Alkoholabhängige in derselben Wohngruppe sind, die sich gegenseitig zurück in die Sucht treiben könnten. Meistens funktioniere das Zusammenleben gut, sagt Kubinski. In sehr seltenen Fällen sei es aber auch schon zum Ausschluss aus der WG gekommen.

Bevor sie einziehen dürfen, müssen sich die potenziellen Bewohnerinnen und Bewohner (wobei es deutlich mehr Bewohner als Bewohnerinnen sind) offiziell auf den Wohnplatz bewerben – inklusive Lebenslauf, Anschreiben und einem einstündigen Gespräch, in dem der Hilfsbedarf geprüft und abgeklopft wird, ob sie eigenständig genug für die Wohngruppe sind. Waschen, putzen, einkaufen, kochen – das müssen die Bewohner alles selbst erledigen. Wer einziehen mag, muss einen Betreuungsvertrag unterschreiben.

Die meisten Bewohner bleiben vier Jahre oder länger, berichtet Roland Hoppe, Leiter des Fachbereichs Betreutes Wohnen bei Präventsozial. „Viele haben zum Teil sehr schwierige Biografien“, weiß er. Der Verein begleite so lange, wie es gebraucht werde und gewünscht sei.

Herr K. wohnt seit 2015 in der WG in Waiblingen-Neustadt. „Ohne das betreute Wohnen wäre ich obdachlos geworden“, sagt er. Nach der Haft hätte er eigentlich gute Perspektiven gehabt, habe sich aber von einigen Schicksalsschlägen aus der Bahn werfen lassen. „Ich bin wieder bei meiner Mutter eingezogen, habe eine Ausbildung angefangen, hatte eine Freundin“, sagt er. Als die Beziehung zu Ende ging, schmiss er auch die Ausbildung, woraufhin ihn seine Mutter aus dem Haus warf.

Herr K. kam bei wechselnden Freunden unter, zuletzt 2014 in Stuttgart. Dort fing er eine neue Ausbildung an. Er fasste wieder Fuß, zog in eine eigene Wohnung im Rems-Murr-Kreis, doch das Verhältnis zu den Vermietern war ungut. Seine schlechte Laune nahm er mit in die Ausbildung, doch das funktionierte nicht auf Dauer. Als er die Ausbildung vorzeitig beendete, beendeten auch die Vermieter das Mietverhältnis. Erneut blickte Herr K. der Obdachlosigkeit entgegen. Doch durch das IB Bildungszentrum Waiblingen, über das seine Ausbildung gelaufen war, kam der Kontakt zu einem Präventsozial-Wohngruppenleiter zustande. Zwei Tage später konnte er einziehen.

„Das war meine Rettung“, sagt Herr K. jetzt, obwohl der Einstieg in das neue Leben alles andere als leicht war. „Die ersten zwei Monate habe ich nicht mit meinem Mitbewohner gesprochen. Wegen meiner Zeit in Haft konnte ich ihn nicht einschätzen“, berichtet er. Irgendwann kamen die zwei Männer dann doch ins Gespräch, lernten sich kennen. Herr K. lebte sich ein. Und das, obwohl er nun auch jeden Morgen früh aufstehen musste. „Das war schon ein krasser Wandel“, sagt er. „Vorher hat sich niemand für mich interessiert, ich habe einfach in den Tag hineingelebt.“

Seit seinem Einzug in die Wohngruppe sei er ein anderer Mensch geworden, sagt Herr K. Das sei vor allem dem Leiter der Wohngruppe zu verdanken. „Seine Art hat mir geholfen.“ Die sei nicht nur freundlich, sondern eher direkt und ruppig gewesen. „Ich habe den Arschtritt gebraucht“, sagt Herr K. Früher, ist er sich sicher, wäre es ihm nicht in den Sinn gekommen, einen Ein-Euro-Job anzunehmen. Tatsächlich hat er nun mehrere Jahre in einem Tafelladen gearbeitet, sich an Weihnachten sogar als Weihnachtsmann mit Kindern fotografieren lassen. Und demnächst fängt wieder ein neuer Lebensabschnitt für ihn an. Herr K. wird sich umbilden lassen, eine Ausbildung beginnen – und diese zu Ende bringen. „Dieses Mal gehts ohne Abbrüche“, sagt er bestimmt.