Wahl zum Interpol-Präsidenten - Kritik am Kandidaten

Von Von Johannes Sadek, Mirjam Schmitt und Sabine Glaubitz, dpa

dpa Paris/Istanbul/Abu Dhabi. Die Wahl zum Präsidenten der Polizeiorganisation Interpol läuft meist im Stillen ab. Jetzt tritt ein Offizier aus den Emiraten an, gegen den Folterklagen laufen.

Wahl zum Interpol-Präsidenten - Kritik am Kandidaten

Ahmed al-Raisi, Generalinspekteur beim Innenministerium der Vereinigten Arabischen Emirate. Foto: Francisco Seco/AP/dpa

Ein emiratischer Generalmajor greift nach einem der höchsten Polizei-Posten weltweit: Kurz vor der Wahl eines neuen Präsidenten der internationalen Polizeiorganisation Interpol gibt es scharfe Kritik an dem aussichtsreichen Kandidaten.

Ahmed al-Raisi, seit 2015 Generalinspekteur beim Innenministerium der Vereinigten Arabischen Emirate, steht laut Kritikern für einen aggressiven Sicherheitsapparat, in dem Abweichler willkürlich festgenommen oder gar gefoltert werden. Ihnen zufolge wäre seine Wahl in die Spitze der Organisation ein dramatisches Signal.

Die Entscheidung soll an diesem Donnerstag in Istanbul fallen. Vertreter der 194 Interpol-Mitgliedstaaten treffen sich dort über drei Tage zu ihrer Vollversammlung. Die Wahl läuft eher im Stillen ab: Eine Liste aller Kandidaten gibt es erst im Laufe der Konferenz. Und nur wenige - darunter Al-Raisi - machen ihre Kandidatur vorab öffentlich. Der Generalmajor war dafür unter anderem in die USA sowie nach Südamerika und Afrika gereist. Laut Berichten hatte er sogar eine britische PR-Agentur beauftragt, seine Kandidatur voranzutreiben.

Mehrfache Foltervorwürfe

In mindestens fünf Ländern wurde gegen Al-Raisi im Zusammenhang mit Foltervorwürfen Klage eingereicht. In einem Fall klagt der britische Politikwissenschaftler Matthew Hedges, der 2018 für Recherchen in die Emirate reiste. Auf der Rückreise nahmen ihn Sicherheitskräfte am Flughafen vorübergehend unter dem Vorwurf fest, er sei ein britischer Spion. „Ich wurde gefoltert. Ich wurde gezwungen, Arznei und Beruhigungsmittel zu nehmen.“ Er habe lang keinen Zugang zu einem Anwalt gehabt, sei in Einzelhaft gehalten und eingeschüchtert worden. „Das System von Missbrauch und Folter ist dort unendlich“, sagt Hedges.

Auch in der Türkei haben Anwälte im Namen des Golfzentrums für Menschenrechte Anzeige gestellt. Es gebe „klare Beweise“, dass er für die „Folterpolitik“ gegen politische Gegner in den VAE verantwortlich sei, heißt es in der Anzeige, die der Deutschen Presse-Agentur vorliegt. Auch müsse Klage erhoben werden wegen „systematischer Folterung“ des bekannten Menschenrechtsaktivisten Ahmed Mansur. Der wurde 2017 festgenommen und zu zehn Jahren Haft verurteilt - wegen „Beleidigung von Status und Prestige der VAE“.

Wer so direkt an Folter beteiligt sei, könne nicht einfach „durch unsere Länder spazieren“, sagte der britische Anwalt Rodney Dixon bei einer Veranstaltung der Mena Rights Group. Sie könnten erst recht nicht die Weltbühne betreten und die „führende Polizei-Person“ werden. Al-Raisi müsse festgenommen werden, fordert Dixon.

Al-Raisi setzt auf neue Technologien

Al-Raisi hatte im September erklärt, Interpol in eine „moderne, von Technologie getriebene Organisation“ verwandeln zu wollen. Die Organisation müsse auch neuen Herausforderungen etwa im Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz, Quantencomputing, Kryptowährungen und Robotik gerecht werden, schrieb er in der Zeitung „The National“.

Als neue Präsidentin kandidiert auch die Tschechin Sarka Havrankova, derzeit Vizepräsidentin im Exekutivkomitee. Der Posten wird planmäßig alle vier Jahre neu besetzt. Streit und Kritik gab es schon 2017, als der Chinese Meng Hongwei zum Präsidenten gewählt wurde. Die Sorge, dass Chinas Regierung über Interpol damit verstärkt nach Dissidenten und Aktivisten fahnden könne, steht nun auch bei Al-Raisi im Raum.

Die Emirate hatten schon 2015 mit Spenden an Interpol im großen Stil begonnen und die Frage aufgeworfen, ob das Land sich damit Einfluss erkaufen wolle. „Interpol wird nicht an den Höchstbietenden verkauft“, lautete im Juni ein in der Zeitung „Le Monde“ veröffentlichter Brief mehrerer Abgeordneter. Auch Dutzende Parlamentarier im Deutschen Bundestag sowie im Europaparlament warnten deutlich vor Al-Raisi.

Die Organisation mit Sitz in Lyon lebt von den Beiträgen der 194 Mitgliedsstaaten. Der Anteil der Emirate macht 0,425 Prozent des Budgets aus - rund 243.000 Euro im Jahr 2019. Da die Summe nicht ausreicht, ruft Interpol regelmäßig zu Beiträgen auf. So verpflichteten sich die Emirate 2016, über fünf Jahre 50 Millionen Euro zu zahlen, also den jährlichen Beitrag von rund 100 Staaten. Damit ist das Land nach den USA der zweitgrößte Beitragszahler.

Die 50 Millionen Euro entsprechen zufällig dem Budget für den geplanten Ausbau der Interpol-Zentrale in Lyon. Laut der Zeitung „Le Temps“ hat Frankreichs Innenminister Gérald Darmanin die lokalen Behörden aufgefordert, in die Geldbörsen zu greifen. Sonst, warnte der Minister, könne die Zentrale in Richtung Abu Dhabi abwandern.

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