Auf der Videoplattform TikTok ist ein heftiger Streit zwischen Türkinnen in Deutschland und Türkinnen in der Türkei entbrannt. Wie kam es dazu? Und was steckt dahinter?
Auf TikTok ist ein Streit zwischen Türkinnen in Deutschland und Türkinnen in der Türkei entbrannt (Symbolbild).
Von Gülay Alparslan
Seit einigen Wochen brodelt es in der türkischen Jugend. Was zunächst als Provokation auf TikTok begann - vermutlich um die eigene Reichweite zu erhöhen –, hat sich mittlerweile zu einem regelrechten Kampf um Identität, Herkunft und Zugehörigkeit entwickelt. Aber was genau ist vorgefallen?
Angefangen hat alles mit einem Video der TikTokerin Meri aus der Türkei. In einem kurzen Beitrag zieht diese über ihre Landsfrauen in Deutschland her. Ihr Vorwurf: Türkinnen in Deutschland sehen alle gleich aus, schminken sich viel zu stark und zu dunkel. Außerdem erkenne sie Deutschland-Türkinnen sofort an ihrem komischen Akzent, sobald diese türkisch sprächen.
@melom.24 @meri ile #düet#fyp#meri#sanaschokoladeyok#almancı#almancıkızlar#makyaj#kesfet#kesfetbeniöneçıkart#kesfetttt#beniöneçıkart#m#irem#fyp#almancilar♬ orijinal ses - meri
Die Antwort der Deutschtürkinnen ließ nicht lange auf sich warten: Mit humorvollen Reaktionsvideos, in denen sie sich teils übertrieben schminkten, konterten sie den Vorwurf von Meri. Die Clips sind unter den Hashtags #almanci und #almancimakeup zu finden. Der Begriff Almancı, abgeleitet von „Alman“ (Deutsch), bezeichnet Türkinnen und Türken, die in Deutschland leben und wird von manchen mitunter auch abwertend verwendet.
Deutschtürkinnen wachsen mehrsprachig auf
Ein solches Reaktions-Video hat die TikTok-Nutzerin @zumrayalc1n online gestellt. Darin sagt sie nicht ohne Ironie, dass ihr Almancı-Schminkstil der TikTokerin Meri wohl gefallen habe, weshalb sie ein entsprechendes Tutorial liefert.
@zumrayalc1n ♬ Originalton -
Auf Meris Kritik über ihre mangelnden Türkischkenntnissen reagieren sie mit Unverständnis: Diese seien vielleicht nicht perfekt, dafür sprächen sie aber mehrere Sprachen – neben dem Türkisch eben auch Deutsch, Englisch, Französisch und teilweise auch weitere Fremdsprachen.
Hinter der Kritik am vermeintlich zu dunklem Make-up verberge sich nach Ansicht der Deutschtürkinnen ein subtiler Rassismus. Schließlich sei eine ablehnende Haltung gegenüber Araberinnen und Syrerinnen in der Türkei allgemein bekannt.
Schlagabtausch auf TikTok-Videos hat in Münevver Cakici etwas aufgewühlt
Eine, die diese Problematik aus eigener Erfahrung kennt, ist Münevver Cakici. Die 24-Jährige ist in Deutschland geboren und aufgewachsen und lebt in Kornwestheim. Auch sie hat den Schlagabtausch auf TikTok mitbekommen und sagt, das habe etwas in ihr aufgewühlt. „Hier in Deutschland hört man oft: ‚Sie sprechen aber gut Deutsch dafür, dass sie nicht deutsch sind‘“, so die 24-Jährige. Das habe sie zwar genervt, weil sie ja hier geboren ist, aber mittlerweile habe sie sich damit abgefunden.
Diese Ausgrenzung nun auch von türkischer Seite zu erfahren, habe sie verärgert. Zwar bezeichnet sie Deutsch als ihre Erst- und Wohlfühlsprache, „aber ich spreche auch Türkisch. Warum wird mir das abgesprochen?“. Der Vorwurf habe sie deshalb so geärgert, weil ihre Eltern in ihrer Kindheit sehr darauf geachtet hätten, ihr sowohl Deutsch als auch Türkisch beizubringen.
Heimat ist nicht unbedingt an einen festen Ort gebunden
Auch wenn sie im Alltag meist Deutsch spricht, sei das Türkische genauso ein Teil von ihr. „Wenn ich mit meiner Familie zusammen bin, spreche ich einen Mix aus Türkisch und Deutsch. Mit den älteren Familienmitgliedern spreche ich eher Türkisch und wenn ich mit Freunden zusammen bin, die Türkisch sprechen, spreche ich Deutsch mit einer Prise Türkisch“, schmunzelt sie.
Auf die Frage, ob sie sich eher als Deutsche oder als Türkin sieht, antwortet Münevver: „Ich tue mich schwer, mich da eindeutig festzulegen. Aber ich würde sagen, dass ich eher eine Deutsche mit Migrationshintergrund bin“.
Ohnehin verbindet sie den Begriff Heimat nicht zwangsläufig mit einem festen Ort. Für sie bedeutet Heimat vielmehr der Zusammenschluss mit Menschen, mit denen sie gleiche Erfahrungen teile. „Ich würde sagen, wir Menschen mit Migrationshintergrund teilen alle in gewisser Weise gleiche ‚traumatische Erfahrungen‘ - das schafft eine starke Verbundenheit.“ Und weil sie diese Begegnungen mit Gleichgesinnten vor allem in Deutschland erlebe, fühlt sie sich hier auch stärker zugehörig.
Man bleibt immer das Kind von Migranten
„In der Türkei bin ich die Deutsche, in Deutschland die Türkin – das ist, glaube ich, ein Satz, den jeder Migrant bestätigen kann.“ Auch wenn man in Deutschland geboren sei, bleibe man das Kind von Migranten – und suche sich dementsprechend „seinesgleichen“. Das sei kein rein deutsches Phänomen, sondern in Ländern wie Frankreich oder England ähnlich.
Doch woher kommt dieser plötzliche Konflikt innerhalb der türkischen Jugend? Handelt es sich um eine neuere Erscheinung – oder hat es diese Spaltung schon immer gegeben und tritt nun lediglich aufgrund von Social Media deutlicher zutage?
Naika Foroutan ist Professorin für Integrationsforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin und Direktorin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung. Sie untersucht, wie sich Einwanderungsgesellschaften verändern und welche Rolle Identität, Partizipation und Diskriminierung dabei spielen.
Konflikte gabe es in jeder Generation
Die Expertin sagt, dass Konflikte zwischen der Diaspora und den im Herkunftsland verbliebenen Menschen kein neueres Phänomen sei. Das habe es schon immer gegeben – und zwar unabhängig von Nationen. Während sich Sprache, Normen und kulturelle Ausdrucksformen im Herkunftsland weiterentwickeln, blieben diese Veränderungen in der Diaspora oft aus oder verliefen deutlich langsamer.
„TikTok-Fight“ für Deutschtürkinnen kränkender
In jüngster Zeit sei vor allem bei jüngeren Migrantinnen und Migranten ein „globaler Trend zur Ethnisierung“ zu beobachten. In einem Klima, das zunehmend von antimuslimischem Rassismus geprägt ist, wachse eine Generation heran, die - geprägt von der Sarrazin-Debatte - in einer Gesellschaft lebe, in der sie nie ganz dazugehört habe, so Foroutan. Sie hätten miterlebt, wie sehr ihre Eltern für ein neues deutsches „Wir“ gekämpft hätten – und wie wenig davon geblieben sei. „Also versucht man eine andere Strategie: sich stärker zu visibilisieren und als türkischstämmig, muslimisch oder arabisch erkennbar zu sein“, so Foroutan.
Der ‚TikTok-Fight’ sei deswegen so kränkend für Deutschtürkinnen, weil sie plötzlich das Gefühl haben: Hier in Deutschland gelten sie als Türkinnen, aber in der Türkei gelten sie nicht als Türkinnen. „Das löst bei ihnen ein Gefühl des doppelten Identitätsbruchs aus, dass sie sich nirgendwo zugehörig fühlen“, erklärt die Expertin.
Dass sich der Konflikt ausgerechnet an einem Schminkstil entzündet, mag auf den ersten Blick oberflächlich erscheinen, ist es aber nicht. Foroutan sieht darin ein klares kulturelles Signal: eine Absage an das Bedürfnis, als „deutsch“ erkannt zu werden. „Jugendkultur ist derzeit sehr stark davon geprägt, bloß kein ‚Alman‘ zu sein“, sagt sie. Der Wunsch, unbedingt als Deutsche oder Deutscher anerkannt zu werden – wie er in früheren Generationen noch zentral war – sei bei vielen Jugendlichen verschwunden. „Stattdessen zeigen sich Jugendliche mit Migrationsgeschichte heute ganz bewusst als ‚Ausländer‘ - und das durchaus selbstbewusst“, so die Expertin.