Zu Beginn der Haushaltswoche warnt das Institut der deutschen Wirtschaft die Bundesregierung vor „einem weiteren Aufwuchs“ bei den Sozialausgaben. Bei öffentlichen Investitionen hinkt Deutschland hinterher. Deutschlands Lage ist ernst, doch Schwarz-Rot verdrängt lieber, als den steinigen Weg schmerzhafter Reformen einzuschlagen.
Deutschland gibt derzeit mit 41 Prozent der Gesamtausgaben mehr Geld für die soziale Sicherung aus als andere europäische Staaten – und doch reicht es für viele Bürger nicht zum Leben.
Von Markus Brauer/dpa
„Die Koalition, die sich als ‚letzte Kugel der Demokratie‘ sieht, benimmt sich, als gäbe es kein Morgen. Und das, während die AfD wächst und die Brandmauer noch ganz woanders bröckelt.“ Diese Sätze waren am 20. November 2025 in der Wochenzeitung „Die Zeit“, die nicht gerade als konservatives Vorzeigeblatt gilt, unter dem Titel „Platz-Patronen“ zu lesen.
Die „letzte Kugel der Demokratie“ (die Formulierung stammt übrigens von CSU-Chef Markus Söder) bricht mit dem aktuellen Bundeshaushalt alle Rekorde: Rekord-Verschuldung, Rekord-Sozialausgaben, Rekord-Verteidigungsausgaben, Rekord-Zinszahlungen.
Dysfunktionales schwarz-rotes Zweckbündnis
Ähnlich rekordverdächtig sieht es bei den Versäumnissen der schwarz-roten Koalition aus: Ob Bildung, Infrastruktur oder Investionen in die Wettbewerbsfähigkeit – Deutschlands strukturelle und industrielle Basis, und damit seine Zukunft, verfällt in Echtzeit.
All das wollen, können oder dürfen die Regierenden offenbar – bis auf wenige Ausnahmen wie Bundeswirtschaftsministerin Katharina Reiche (CDU) – nicht wahrhaben.
Selbst wenn sie es vielleicht besser wissen sollten: Um des politischen Überlebens des CDU-CSU-SPD-Bündnisses willen wird so gehandelt, als ob es kein Morgen gäbe. Oder im Söder-Slang gesprochen: Als ob nur noch eine Patrone in der Revolvertrommel steckte.
Was offenbar primär zählt, ist das Heute – bis zur nächsten regulären Bundestagswahl im Frühjahr 2029. Wenn dieses dysfunktionale Zweckbündnis überhaupt bis dahin standhält. Glaubt man den Meinungsumfragen traut eine Zweidrittelmehrheit der Bundesbürger Schwarz-Rot schon nach sieben Monaten im Amt nicht mehr zu, die Republik vor dem internationalen Absturz zu bewahren.
Regierende im Verdrängungsmodus
Wie kann das sein? Warum können erfahrene Polit-Profis die unverkennbaren Zeichen der Zeit nicht erkennen? Des Rätsels Lösung heißt: Verdrängung.
In der Psychoanalyse Sigmund Freuds (1856-1939) meint Verdrängung einen unbewussten Mechanismus: Das Ich (oft unter dem Einfluss des Über-Ich) schiebt inakzeptable Wünsche und Gedanken in das Unbewusste, um das Ich vor Angst zu schützen.
Die verdrängten Inhalte verschwinden aber nicht, sondern bleiben im Unbewussten aktiv und suchen nach Wegen, sich auszudrücken. „Der verdrängte Trieb gibt es nie auf, nach seiner vollen Befriedigung zu streben, die in der Wiederholung eines primären Befriedigungserlebnisses bestünde“, schreibt der Begründer der Psychoanalyse.
Verdrängte Wünsche und Triebe suchen laut Freud weiterhin nach Befriedigung und manifestieren sich als Symptome oder Ersatzverhaltensweisen. Diese wiederum können sich als psychische Störungen oder Verhaltensauffälligkeiten zeigen.
Realität? In der Politik greift ein Abwehrmechanismus
Verdrängung bezeichnet in der psychoanalytischen Theorie folglich einen Abwehrmechanismus, der innerseelische oder zwischenmenschliche Konflikte reguliert, indem tabuisierte oder bedrohliche Sachverhalte oder Vorstellungen von der bewussten Wahrnehmung ferngehalten werden. Verdrängung ist ein ganz gewöhnlicher, bei vielen Menschen auftretender Vorgang – und kein Vorrecht einer politischen Elite.
Kein „weiterer Aufwuchs der Sozialausgaben“
Was wird denn von den Politikern verdrängt, werden Sie sich jetzt fragen. Die Realität! Und die kann einem in der Tat einen gehörigen Schrecken einjagen. Ein Überblick:
Mitten im Rentenstreit und zu Beginn der Haushaltswoche rät das arbeitgebernahe Institut im Fazit der Bundespolitik, „einem weiteren Aufwuchs der staatlichen Aktivität und vor allem der Sozialausgaben entgegenzutreten“. Das gelte auch für Ausgaben im Gesundheitswesen.
Hohe Verwaltungskosten, Schlusslicht bei Bildung
Das IW hat die Ausgaben Deutschlands insgesamt und in verschiedenen Bereichen für die Jahre 2001 bis 2023 untersucht. Als westeuropäische Vergleichsregionen hat das Institut die Benelux-Länder, Österreich und die Schweiz sowie die nordischen Länder Dänemark, Schweden, Norwegen, Finnland und Island herangezogen, die mit Blick auf ihre wirtschaftliche Entwicklung und kulturelle Prägung Deutschland relativ ähnlich sind.
Wer laut genug ruft, der bekommt, was er will
Der IW-Lagebericht ist eindeutig, die ökonomische Botschaft unmissverständlich. Auch die „Wirtschaftsweise“ Monika Schnitzer kritisiert die Beschlüsse der schwarz-roten Koalition zur Ankurbelung der Wirtschaft.
Eine Einigung wie jüngst im Koalitionsausschuss komme immer leichter zustande, wenn man Geld verteile, argumentiert Schnitzer. „Und das vielleicht eben auch für Gruppen, die es nicht unbedingt brauchen, aber die besonders laut danach rufen“, konstatiert die Vorsitzende des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, wie das Gremium der „Wirtschaftsweisen“ offiziell heißt. „Man muss also an der Stelle sich schon fragen, warum man für so etwas Geld ausgibt. Das wird das Wachstum nicht beschleunigen.“
Monika Schnitzer spricht sich dafür aus, dass es am Ende für alle bestimmte Einschnitte geben müsse. „Und wenn man das gerecht verteilt, muss das auch gehen. Aber das ist natürlich die schwierigere Aufgabe.“
„Rentenpaket zurückziehen“
Monika Schnitzer steht mit ihrer Meinung nicht alleine. In einem gemeinsamen Appell unter dem Titel „Rentenpaket zurückziehen“ dringen 22 namhafte Ökonomen und andere Wissenschaftler darauf, dass die Bundesregierung ihr Vorhaben stoppt. Zu den Unterzeichnern zählt auch der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats des Finanzministeriums von SPD-Chef Lars Klingbeil.
Der Beiratsvorsitzende Jörg Rocholl bemängelt gemeinsam mit zwei Mitunterzeichnern – ifo-Chef Clemens Fuest und der Vorstand der Stiftung Marktwirtschaft, Michael Eilfort –, dass die Reformpläne gegen zentrale Prinzipien erfolgreicher Rentenpolitik verstießen.
Status quo ist besser als schlechte Reform
Vor allem die Haltelinie beim Rentenniveau und die geplante Ausweitung der Mütterrente belasteten die öffentlichen Finanzen erheblich, warnen sie. „Es wäre für das Vertrauen in die Politik fatal, wenn jetzt Entscheidungen durchgedrückt würden, die bereits in wenigen Jahren zwangsläufig drastische negative finanzielle Folgen hätten.“
Und: „Solange es an einem überzeugenden Reformkonzept sowie einem tragfähigen Ausgleich fehlt, ist es besser, den gesetzlichen Status quo wirken zu lassen.“
Erhalt der Koalition als Non plus ultra
Verdrängung funktioniert, wenn auch unbewusst, so doch wider besseren Wissens. Im Modus der Verdrängung der Realität lehnt die Unionsfraktion im Bundestag – die SPD ohnehin – den von Experten geforderten Stopp des Rentenpakets ab.
Ohne das Paket würde zum Beispiel die geplante Aktivrente nicht kommen, erläutert der erste Parlamentarische Geschäftsführer der Unions-Bundestagsfraktion, Steffen Bilger (CDU). Mit der Aktivrente sollen Rentner bis zu 2000 Euro im Monat steuerfrei dazuverdienen können. Auf diese Weise soll unter anderem dem Fachkräftemangel begegnet werden.
Immerhin: Bilger teilt das Verständnis der Ökonomen, dass es bei der Rente nicht so weiter gehen könne wie bisher. Bei der geplanten Renten-Kommission – in der dann auch einige der jetzt vorpreschenden Ökonomen sitzen werden – , die Vorschläge zur langfristigen Alterssicherung machen soll, sei deren Rat auch willkommen. Bei dem kurzfristigen Rentenpaket verwies der CDU-Politiker aber auf den Koalitionsvertrag, auf den sich auch die SPD berufen könne.
Machterhalt statt Zukunftssicherung
Das Kalkül hinter dieser Taktik ist nur allzu deutlich: Um des lieben Koalitionsfriedens willen soll die CDU-CSU-Fraktion das Rentenpaket im Bundestag durchdrücken, weil sonst wohl die Tage von Schwarz-Rot gezählt wären.
Ergo geht es hier nicht um Zukunftssicherung, sondern um Machterhalt. Nicht um die Stabilität der Rente auch für zukünftige Generationen, sondern um ein politisches Durchhalten bis zur nächsten Bundestagswahl. Was danach kommt, steht sowieso in den Sternen.
Wenn nach dem Jahr 2029 fast der gesamte Bundeshaushalt für Soziales, Verteidigung und Zinstilgung verplant sein und kein Cent mehr für Investitionen zur Verfügung stehen sollte, gäbe es ohnehin wenig, vielleicht gar keinen finanziellen Spielraum mehr.
Nachfolger muss Merz’ teure Wechsel einlösen
„Ich gehe davon aus, dass wir uns einigen“, hat Kanzler Merz nach dem G20-Gipfel im südafrikanischen Johannesburg verdeutlicht. Für die Zeit bis 2031 gebe es keinen Dissens, so Merz weiter. Für die Zeit danach müsse man einen Weg finden, die enormen Kostenbelastungen für den Haushalt und damit auch der jungen Generationen zu dämpfen.
Mit anderen Worten: Den Karren, den Schwarz-Rot in den Dreck gezogen hat, sollen anderen wieder raushieven.
Zu beneiden ist der/die nächste Kanzler/Kanzlerin nicht. Friedrich Merz wird das wohl kaum sein. Der CDU-Chef hat teure Wechsel ausgestellt, die erst seine Nachfolger werden einlösen müssen. Doch wer so mit Verdrängen beschäftigt ist wie das schwarz-rote Bündnis, für den spielt die Zeit nach ihm ohnehin keine große Rolle.
Bedenken der jungen Leute haben etwas „Stichhaltiges“
Das Rentenpaket mit weiteren Elementen soll zum 1. Januar 2026 in Kraft treten. Es gibt darum aber noch Streit in der Koalition. Die Junge Gruppe der Unionsfraktion lehnt es wegen hoher langfristiger Kosten ab. Ohne sie hätte die Koalition keine sichere Mehrheit bei einer Parlamentsabstimmung.
Die SPD wiederum lehnt Änderungen an dem Paket ab. Dazu gehören auch die sogenannte Haltelinie beim Renten-Sicherungsniveau, die ausgeweitete Mütterrente und die geplante Frühstartrente, wonach Kinder ab dem sechsten Lebensjahr pro Monat zehn Euro vom Staat für ein Altersvorsorgedepot bekommen sollen.
Bilger lässt offen, ob eine Einigung noch diese Woche gelingt. Die Bedenken der jungen Leute hätten auch etwas „Stichhaltiges“, räumt der CDU-Politiker ein.