Warum von „Kanzlermehrheit“ sprechen, wenn sie gar nicht verlangt wird? Und wie viele Stimmen sind dafür im Bundestag nötig?
Skeptischer Friedrich Merz mit Stimmkarte im Bundestag.
Von Michael Maier
Die Kanzlermehrheit bezeichnet die absolute Mehrheit aller Mitglieder des Deutschen Bundestages. Gemeint ist also nicht die Mehrheit der gerade anwesenden Abgeordneten, sondern mehr als die Hälfte der gesetzlich festgelegten Gesamtzahl.
Bei einem Bundestag mit 630 Sitzen bedeutet das: Mindestens 316 Stimmen sind notwendig. Schwarz-Rot verfügt lediglich über 12 Stimmen mehr, also insgesamt 328.
Diese besondere Mehrheit spielt vor allem bei der Wahl des Bundeskanzlers oder der Bundeskanzlerin eine Rolle. Dort ist sie im ersten Wahlgang verfassungsrechtlich vorgeschrieben, später reicht auch eine relative Mehrheit.
Knazlermehrheit steht für Handlungsfähigkeit
In vielen anderen parlamentarischen Situationen genügt zwar die einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen (mehr „ja“ als „nein“), doch der Begriff „Kanzlermehrheit“ wird häufig auch in einem übertragenen Sinne genutzt – nämlich dann, wenn eine Regierung ihre Handlungsfähigkeit und Geschlossenheit demonstrieren möchte.
Gerade in politisch sensiblen Situationen wollen Regierungen zeigen, dass sie ein Gesetz aus eigener Kraft verabschieden können. Eine Kanzlermehrheit vermittelt Stärke, Stabilität und Verlässlichkeit. Sie signalisiert, dass die Koalition geschlossen hinter einem Vorhaben steht und nicht auf Hilfe oder Enthaltungen von Oppositionsfraktionen angewiesen ist.
Kanzlermehrheit (316 Stimmen) und Vertrauensfrage
In diesem Sinne ist die Kanzlermehrheit mehr als ein formaler Begriff – sie ist ein politisches Statement. Sie könnte auch mit der Vertrauensfrage verbunden werden – wovor der mitunter schwach und widersprüchlich wirkende CDU-Kanzler Friedrich Merz im Gegensatz zu Gerhard Schröder (SPD) jedoch bisher immer zurückgeschreckt ist. Auch Scholz und Merkel haben nie die Vertrauensfrage gestellt.
Ein anschauliches Beispiel für die Kanzlermehrheit ist die namentliche Rentenabstimmung im Bundestag. Die Koalition um Friedrich Merz strebte im Vorfeld ausdrücklich eine eigene absolute Mehrheit an und wollte nicht von einer Enthaltung der Linksfraktion abhängig sein. Es sollte nicht der Eindruck entstehen, das Vorhaben hänge von der Passivität der Opposition ab – zumal CDU/CSU und Linke ideologisch besonders weit auseinander sind.
Merz als „Kanzler von Gnaden der Linken“?
Deshalb möchte Merz kein „Kanzler von Gnaden der Linken“ sein und erklärte, dass das Rentenpaket ausschließlich mit Stimmen der Koalition beschlossen werden solle.
Rechnerisch verfügt die Regierungsmehrheit über genügend Mandate, um stets die 316 Stimmen zu erreichen, die der Kanzlermehrheit entsprechen. Die Botschaft ist klar: Die Koalition soll solche Abstimmungen sichtbar selbst tragen – ohne jede Stütze von außen. Allerdings ging das schon mehrmals in letzter Sekunde schief, bevor es überhaupt an die Urnen ging – etwa im Fall der SPD-Richterkandidation Frauke Brosius-Gersdorf oder im ersten Anlauf beim neuen Wehrdienst.
Ob bei großen Reformen oder heiklen Gesetzesinitiativen – das Streben nach einer Kanzlermehrheit bleibt ein Dauerbrenner im politischen Betrieb, weil es die Stabilität und Eigenständigkeit einer Regierung besonders deutlich unterstreicht.