Was ist uns Dienstleistung wert?

Solange sich das Bewusstsein für den Wert der Arbeit nicht wandelt, bleibt der Niedriglohnsektor

Von Matthias Schiermeyer

Einen Aufschrei der Empörung hat Verdi-Chef Frank Bsirske in der Paketbranche ausgelöst, weil er ihr teils „mafiöse Strukturen“ vorwirft. Dass über die Beauftragung von Subunternehmen Menschen beschäftigt werden, die für einen Stundenlohn von 4,50 bis sechs Euro bei Arbeitszeiten von zwölf oder mehr Stunden pro Tag schuften müssen­, weisen etablierte Unternehmen wie Hermes nämlich weit von sich. Doch selbst wenn es sich um unrühmliche Ausnahmen handeln sollte, so muss der Gesetzgeber solchen Praktiken über die sogenannte Nachunternehmerhaftung baldmöglichst einen Riegel vorschieben – so wie er das am Bau oder in der Fleischbranche auch schon gemacht hat.

In jedem Fall wirft der Streit ein grelles Schlaglicht auf die deutsche Arbeitswelt. Zwar lockt der Arbeitsmarkt mit dem Versprechen der Vollbeschäftigung. Doch es sollte nicht vergessen werden, dass die glänzende Bilanz mit einem der größten Niedriglohnsektoren Europas teuer erkauft ist. Jeder fünfte Vollzeitbeschäftigte, also 4,2 Millionen Menschen, erzielen einen Lohn unter der bundesweiten Niedriglohnschwelle von monatlich 2139 Euro brutto (Stand 2017). Betroffen sind mehr Frauen als Männer, mehr Ost- als Westdeutsche und – besonders brisant – deutlich mehr junge als ältere Kräfte. Insgesamt liegt der Anteil der Geringverdiener sogar bei 23 Prozent.

Das Problem ist nicht neu, weshalb die Politik nun über eine angemessene Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns streitet. Genauso wichtig wäre es, die Einhaltung der Lohnuntergrenze intensiver zu kontrollieren. Denn es sind keineswegs nur „mafiöse“, sondern auch ganz normale Unternehmen, die über längere Arbeitszeiten zum Beispiel den Mindestlohn umgehen. Damit wächst die Lücke zwischen den Einkommen der Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft – und damit auch das gegenseitige Unverständnis.

Ganze Branchen wie das Bewachungs- oder das Transportgewerbe leben vom Dumpingwettbewerb. Nur mit Mühe gelingt es den Gewerkschaften, dort Fuß zu fassen und tarifliche Zuwächse durchzusetzen. Doch dies ist nur die eine Seite der Medaille – für die andere ist der Verbraucher verantwortlich, weil er sich allzu sehr an billige Dienstleistungen gewöhnt hat. Es ist ja so schön einfach, die Großbestellung im Internet aufzugeben. Das Ausfahren von Paketen und Pizzen, das Haareschneiden oder die Reinigung der Wohnung – all das darf aber nur so viel kosten wie unbedingt nötig. Ein ganzes Heer von Freiberuflern, die sich dagegen kaum wehren können, sind auch in der Gastronomie, in Gesundheits- oder Pflegejobs unterwegs. Digitale Tagelöhner hangeln sich mit Minivergütungen auf Online-Plattformen von Auftrag zu Auftrag. Und nicht grundlos protestierten jüngst Hunderte Taxifahrer vor dem Bundesverkehrsministerium gegen eine Reform des Personenbeförderungsgesetzes, weil sie – mit Blick vor allem auf den Fahrvermittler Uber – neue digitale Mobilitätsangebote mit Kostendrückerei verbinden. Die Technik bietet viele Chancen zur Entwicklung neuer Dienstleistungen, doch bergen diese oft schlechte Arbeitsbedingungen, setzen das Lohngefüge unter Druck und gefährden die sozialen Sicherungssysteme, wenn niemand einschreitet.

Insofern ist nicht nur die Politik gefragt, idealerweise für europäische Mindeststandards zu sorgen. Nötig ist auch ein gesellschaftlicher Bewusstseinswandel. Jeder Einzelne sollte den Preis seines Handelns öfter hinterfragen, dann kommt er vielleicht zu der Erkenntnis: Dienstleistungen müssen anständig bezahlt werden. Wenn sich diese dann nicht mehr rechnen für ein Unternehmen, haben sie im Grunde auch keine Rechtfertigung mehr.

matthias.schiermeyer@stzn.de