Wenn die Drogensucht das Leben bestimmt

Der 35-jährige M. konsumiert seit 20 Jahren Cannabis und Alkohol – „Ich weiß, dass mich das Zeug irgendwann zugrunde richtet“ – Erster Joint in der Berufsschule

Wie fühlt es sich an, kaum Erinnerungen aus den vergangen 20 Jahren zu haben? Wie fühlt es sich an, den Großteil des Lebens im Drogenrausch zu verbringen? Wie fühlt es sich an, mit 35 Jahren auf ein Leben zu blicken und nichts erreicht zu haben, weil die Drogen alle Entwicklungen verhindert haben? Ein Gespräch.

Wenn die Drogensucht das Leben bestimmt

„Die Droge hat keine Erwartungen an dich, du kannst sie nicht enttäuschen“, sagt M., der seit 20 Jahren Cannabis raucht. Foto: Adobe Stock

Von Silke Latzel

BACKNANG. Herr M. ist 35 Jahre alt, lebt in der Nähe von Backnang und möchte seinen Namen nicht in der Zeitung lesen. Denn M. konsumiert seit genau 20 Jahren Drogen. Mit 15 hat er das erste Mal gekifft. Das war an der Berufsschule. „Die Älteren kamen immer so anders aus der Pause zurück, so ruhig und entspannt und ich wollte wissen, was die da machen. Also bin ich einfach mitgegangen. Und so hat es dann angefangen.“

Hätte M. damals seine Neugier im Griff gehabt und nicht den ersten Joint geraucht, würde er dann heute nicht zum wiederholten Mal bei der Caritas-Suchthilfe sitzen? Spekulation. Würde es ihm besser gehen? „Auf jeden Fall“, sagt er. „Nicht nur körperlich, auch seelisch. Ich weiß, dass mich das Zeug irgendwann zugrunde richtet. Und wenn ich mir anschaue, was andere Menschen in meinem Alter alles haben – eine Familie, eine eigene Wohnung, einen Job – und ich dann sehe, was ich habe, das ist schon hart.“

„Alle Süchtigen sind meistens auf der Suche nach Liebe“

M. ist arbeitslos, seit vier Jahren Single und wohnt bei seiner Mutter. Seinen Führerschein hat er freiwillig abgegeben, ein Auto könnte er sich sowieso nicht leisten – die Sucht frisst sein ganzes Geld, sogar zwei Bausparverträge hat er im Laufe der Zeit gekündigt und das Ersparte in Drogen investiert. M. ist abhängig von Alkohol und Cannabis. Doch in seiner langen Drogengeschichte hat er fast alles ausprobiert, was es auf dem Markt gibt, unter anderem Ecstasy und Kokain. „Aber das war irgendwann dann zu teuer. Heroin habe ich glaub ich auch mal geschnupft, aber ich kann mich nicht mehr erinnern“, sagt er. Dafür aber an Speed und andere Amphetamine. „Das war eine krasse Zeit. Ich habe Speed genommen, um mich aufzuputschen und Cannabis geraucht, um wieder runterzukommen – eigentlich war das wie Gas und Bremse gleichzeitig.“ Einmal ist M. zwölf Tage am Stück wach. Was er in dieser Zeit gemacht hat? „Keine Ahnung, ich weiß es einfach nicht mehr.“ Essen und Trinken haben ebenso wenig eine Rolle gespielt, wie die Körperhygiene.

Angefangen, Drogen zu nehmen, hat er aus Neugier. „Auch ein Stück Rebellion spielte da sicherlich eine Rolle.“ Denn eigentlich kommt M. aus einem behüteten Elternhaus – zu behütet, sagt er heute. Er weiß, dass seine Eltern, vor allem seine Mutter, an seiner Sucht verzweifeln. „Sie bräuchte glaube ich selbst Hilfe“, sagt er. „Es ist ja nicht nur die Enttäuschung, sondern sie fragt sich auch die ganze Zeit, was sie falsch gemacht hat, wieso ich so bin. Aber sie hat nichts falsch gemacht.“ Seine Mutter erwischte ihn einmal in flagranti: Mit seinem Bruder rauchte M. eine Bong. „Er hat danach die Finger davon gelassen. Ich hab mich entschieden, weiterzumachen – und mich eben nicht mehr erwischen zu lassen.“

Mehrmals versucht M. von den Drogen wegzukommen, doch er schafft es nicht. Jetzt steht er kurz vor seinem zweiten Anlauf zu einer Therapie. „Ganz ehrlich, wenn ich daran denke, dass ich bald nichts mehr nehmen darf, da könnte ich kotzen.“ Doch er sagt auch: „Was bleibt mir anderes übrig? So geht es ja nicht weiter. Und bei meinem Pech werde ich am Ende nicht mal früh sterben, sondern 100 Jahre alt werden, um für den ganzen Scheiß zu büßen.“ Vom nasalen Drogenkonsum hat M. ein Loch in der Nasenscheidewand, seine Schleimhäute sind kaum noch vorhanden. „Ich hatte wahnsinniges Glück. Es gibt Leute, die viel weniger genommen haben als ich und viel fertiger sind.“ M. lacht viel, spricht sehr offen und manchmal schmerzhaft ehrlich über seine Sucht und sein Leben. Er ist ein attraktiver, gepflegter Mann. Würde man ihm auf der Straße begegnen, würde man nicht annehmen, er sei drogenabhängig. Allein seine müden Augen wollen nicht so richtig ins Bild passen.

„Alle Süchtigen suchen nach irgendetwas, meistens nach Liebe. Und sie wollen den Kick ihres ersten Rauschs wieder haben. Aber den werden sie nicht mehr bekommen, denn das erste Mal gibt es eben nur einmal – alles andere danach kommt da nicht mehr ran.“ Ohne die Wirkung des Cannabis fühlt sich die Welt für M. „zu viel an. Alles ist zu viel, alles kommt so ungefiltert durch. Das ist schwer zu ertragen für mich.“ Starke Gefühle aushalten, vor allem auch negative, das kann M. nicht. Durch seinen jahrzehntelangen Konsum hat er zudem auch kognitive Einschränkungen, kann sich schlecht konzentrieren, vergisst Dinge und fühlt sich oft wie ein Pubertierender. „Manchmal kommt es mir so vor, als sei ich als 15-Jähriger stehen geblieben und habe mich geistig nicht weiterentwickelt.“

Jahrelang läuft M. „wie auf Autopilot“, auch während seiner Lehre. „Als ich noch Amphetamine konsumiert hab, bin ich mir oft wie ein Zeitreisender vorgekommen. Ich hab gar nicht gemerkt, wie die Zeit vergeht und was ich eigentlich den ganzen Tag gemacht habe.“ Es dauert nicht lang und M. nimmt die Drogen auch während der Arbeit. „Ich hatte eine kleine Schachtel im Socken, da war ein abgeschnittener Strohhalm drin und eben der Stoff. Und immer wenn ich das Gefühl hatte, ich brauch jetzt was, konnte ich mich schnell wegknallen.“

Irgendwann reicht ihm das Gras nicht mehr, um runterzukommen, er trinkt Alkohol. „Schnaps mag ich zum Glück nicht, ich hab Bier getrunken. Viel Bier. Und auch wenn mich das irgendwann angeekelt hat, hab ich weitergetrunken, weil ich nicht aufhören konnte.“ Und eigentlich möchte M. auch gar nicht trinken, denn „kiffen ist viel besser. Und ich weiß ja auch, dass ich den Teufel nicht mit dem Beelzebub austreiben kann.“

Seine Sucht zu erklären, sei schwierig, so der 35-Jährige. „Mein Kopf weiß, dass ich aufhören muss. Nur mein Herz versteht das noch nicht.“ M. sagt, für ihn sei der Drogenkonsum etwas Einfaches, denn „die Droge hat keine Erwartungen an dich, du kannst sie nicht enttäuschen und sie liebt dich bedingungslos. Sie lockt dich, ist immer da und schreit ,Nimm mich, dann wird es dir gut gehen‘. Wenn Sex Level 100 ist, dann ist ein Drogenrausch Level 5000.“ Ihm fehle vor allem der Antrieb, etwas an seiner Situation zu ändern. „Für mich ist es einerseits ja ganz locker, ich wohne zu Hause, im Kühlschrank ist immer etwas zu essen, ich hab ein Dach über dem Kopf und auch sonst eigentlich alles was ich brauche. Anderseits hab ich eben sonst nichts, keine Familie, keine Partnerin, keinen Job – da komm ich mir oft wertlos vor.“ M. weiß, dass er vor allem Geduld braucht und auch wenn er nach ein paar Wochen Therapie „clean“ sein wird, ist er noch lange nicht weg von den Drogen. „Bislang bin ich maximal neun Monate ohne ausgekommen, dann hab ich mir gesagt ,Los, einmal, zur Belohnung, weil du es schon so lang geschafft hast‘ und – zack – war ich wieder drauf.“

„Ich kann nach der Therapie nicht wieder zurück in mein altes Leben“

Bald startet M.s nächste Therapie – zehn Wochen wird sie dauern. Auch für die Zeit danach hat er schon Pläne: „Ich möchte auf dem Fleckenbühler Hof aufgenommen werden.“ Der Hof liegt im hessischen Cölbe und ist eine Lebensgemeinschaft und Selbsthilfeorganisation von Menschen mit Suchtproblemen, die ohne Drogen, Alkohol, Tabak und Gewaltanwendung leben wollen. Wer sich nicht an die strengen Regeln hält, fliegt raus. „Und genau so etwas brauch ich. Ich kann nach der Therapie nicht wieder zurück zu meiner Mutter. Ich weiß, dass sie mich nie auf die Straße setzen würde, auch wenn sie es schon angedroht hat. Aber würde ich wieder nach Hause zurück, wäre ich in derselben Situation und im selben Leben wie vor der Therapie. Und dann werde ich es nie schaffen.“