Wenn Menschen mit Behinderung aus dem Elternhaus ausziehen

Für Menschen mit Behinderung und ihre Eltern ist es ein besonders einschneidender Schritt, wenn der Auszug aus dem Elternhaus ansteht. Fachleute empfehlen, damit nicht zu lange zu warten, damit die Abnabelung nicht zu schmerzhaft wird.

Wenn Menschen mit Behinderung aus dem Elternhaus ausziehen

Im Wohnheim der Paulinenpflege Winnenden in Murrhardt gefällt es Tim Dörfler gut. Fotos: Stefan Bossow

Von Annette Hohnerlein

Rems-Murr. Sophia Karadag weiß genau, was sie will. „Wenn ich 30 bin, möchte ich ausziehen, in eine gemischte WG mit Menschen mit und ohne Behinderung.“ Die 29-Jährige hat das Downsyndrom und arbeitet im Familienzentrum Famfutur in Backnang. Im Moment wohnt sie noch bei ihrer Mutter und deren Lebensgefährten. „Seit sie 29 geworden ist, kommt dieser Wunsch immer wieder; es wird jetzt Zeit“, sagt Sophias Mutter Christl. Sie möchte demnächst mit dem Landratsamt als Kostenträger Kontakt aufnehmen und gleichzeitig in Backnang und Umgebung nach einer geeigneten Wohnform suchen.

„Am Anfang wird viel Unterstützung nötig sein“, ist Christl Karadag sicher. Deshalb komme für Sophia eine ambulante Wohnform, bei der die Betreuer nur ein paar Stunden in der Woche vor Ort sind, nicht in Frage. Bevor die Entscheidung fällt, soll ihre Tochter auf jeden Fall die Gelegenheit haben, in ihrer zukünftigen WG probeweise zu wohnen.

Das Loslassen ist für beide Seiten schwer

Die Abnabelung von den Eltern, die normal entwickelte Kinder in der Regel von sich aus einfordern, ist bei jungen Erwachsenen mit Behinderung ein schwieriger Prozess, speziell beim Thema Auszug. Sie tun sich oft schwer, sich ein anderes Zuhause vorzustellen als das, das sie kennen. Für die Eltern ist das Loslassen ebenfalls schwierig, sie müssen die Fürsorge für ihr Kind teilweise in die Hände von Fremden geben.

Familie Dörfler aus Backnang ist diesen Schritt schon gegangen. Ihr Sohn Tim lebt seit anderthalb Jahren in einem Wohnheim der Paulinenpflege Winnenden in Murrhardt. Dort werden 32 Menschen mit geistiger Behinderung, aufgeteilt in vier Gruppen, von einem Team von Betreuern versorgt. „Wir haben Glück gehabt, dass kurzfristig ein Platz frei geworden ist“, sagt Bärbel Dörfler. Sie und ihr Mann hatten mit vier Einrichtungen der Behindertenhilfe Kontakt aufgenommen und zunächst die Auskunft bekommen, es könne Jahre dauern. Ihr damals 27-jähriger Sohn mit Downsyndrom war in eine psychische Krise geraten, welche die Familie sehr belastete. „Er hatte deutliche Abnabelungsbestrebungen“, erzählt Tims Vater Harald, „das ging bis zur kompletten Verweigerung. Er wollte morgens nicht mehr aufstehen, nicht zur Arbeit gehen.“ Die behandelnden Psychologen empfahlen der Familie, sich um einen zeitnahen Auszug zu kümmern.

Inzwischen hat sich alles gut eingespielt; auf die Frage, ob es ihm in seiner neuen Umgebung gefällt, antwortet Tim: „Absolut.“ Zwar fällt der Abschied am Sonntagabend manchmal schwer, aber spätestens nach zwei Wochen sieht Tim seine Eltern und seine beiden Brüder wieder. Und auch über Weihnachten, Silvester, Ostern und zu Familienfesten kommt Tim immer heim, am Straßenfest sowieso.

Eltern wollen ihrer Tochter nicht im Weg stehen

Franziska Tyburzy wohnt bei ihren Eltern in Lippoldsweiler. Die 28-Jährige hat ebenfalls das Downsyndrom und arbeitet im Gasthaus Lamm in Leutenbach, das von der Paulinenpflege Winnenden betrieben wird. Bereitwillig erzählt sie, was dort zu ihren Pflichten gehört: Tische decken, servieren, abräumen spülen, putzen. Wenn man sie jedoch auf einen möglichen Wegzug aus dem Elternhaus anspricht, dann verstummt sie, das Thema ist ihr sichtlich unangenehm. Die Eltern könnten sich vorstellen, dass ihre Tochter eines Tages von der gemeinsamen Wohnung einen Stock tiefer in die Einliegerwohnung umzieht, auch eine Wohngemeinschaft zu zweit wäre dort problemlos möglich. „Ich habe schon mit ihr im Untergeschoss übernachtet“, berichtet Annemarie Tyburzy, „aber alleine will sie nicht bleiben“. Und Franziska erklärt, warum das so ist: „Bei Mama und Papa ist es so schön.“ Dabei wollen die Eltern ihrer Tochter nicht im Weg stehen, wenn sie irgendwann von sich aus den Wunsch äußert, in eine WG zu ziehen. „Dann muss man schauen, ob man etwas findet. Auf jeden Fall sollte jemand in der Nähe sein, der einen Blick auf sie hat“, betont Annemarie Tyburzy. Ihr Mann Thomas kann sich auch vorstellen, dass Franziskas Bruder oder ihre Schwester sie irgendwann zu sich nehmen.

Übergang in die Wohngruppe

Gespräch Silvia Hausy-Knodel koordiniert die Aufnahme von Neuzugängen in Wohneinrichtungen bei der Paulinenpflege Winnenden. Am Anfang des Verfahrens steht ein Gespräch zwischen den Betroffenen, ihren Eltern und Vertretern des Landratsamts, bei dem der Bedarf festgestellt und in einem Gesamtplan festgehalten wird.

Wohnplatzsuche Wenn dieser Plan eine sogenannte Besondere Wohnform (früher „Stationäres Wohnen“, also mit einer permanenten Betreuung) empfiehlt, folgt die Suche nach einem geeigneten Wohnplatz: In welcher Wohngruppe wird ein Platz frei? Passt der Betreffende in die Gruppe? Manchmal kommen Klienten und Eltern auch mit einem konkreten Wunsch auf die Paulinenpflege zu, berichtet Hausy-Knodel. Zum Beispiel der Paulinenhof in Winnenden-Hertmannsweiler sei sehr beliebt. Nach der Kostenzusage durch das Landratsamt kann dann die Aufnahme erfolgen.

Probewohnen „Wir bieten ein bis zwei Wochen Probewohnen an. Das ist wichtig, damit sich die Betreffenden vorstellen können, wie das in einer Wohngruppe so ist“, betont die Paulinenpflege-Mitarbeiterin, „Man kann auch eine langsame Umstellung vornehmen, bei der die Klienten am Wochenende zunächst noch daheim sind, damit sie merken: Mein Zuhause geht mir nicht verloren.“

Planung Die Expertin rät den Eltern, das Thema nicht auf die allzu lange Bank zu schieben, sondern sich frühzeitig damit zu beschäftigen. Die schlechteste Lösung sei ein überstürzter Auszug aus einer Notsituation heraus, sagt Silvia Hausy-Knodel. Wenn die Eltern plötzlich ausfallen, zum Beispiel wegen einer Erkrankung, dann könne es zu dramatischen Situationen kommen. Sie berichtet von einem 60-jährigen Klienten, der in einer solchen Situation von heute auf morgen sein Elternhaus verlassen musste: „Das sind schlimme Aufnahmen.“