Wenn sich Schicksale mit Farbe füllen

Gerhard Fritz blickt auf fast 20 Jahre als Professor an der Pädagogischen Hochschule in Schwäbisch Gmünd zurück. An seinem Fach Geschichte hat ihn immer fasziniert, zu erkunden, wie die historischen Bedingungen Einfluss auf ein menschliches Leben nehmen.

Wenn sich Schicksale mit Farbe füllen

Gerhard Fritz zu Hause auf der Wohnzimmercouch. Für sie und seine Enkel hat er jetzt mit dem langsamen Auslaufen der Lehre mehr Luft. Foto: J. Fiedler

Von Christine Schick

MURRHARDT. Bei den Fragestellungen, mit denen sich Gerhard Fritz befasst hat, geht es oft um Steuerbarkeit beziehungsweise Abhängigkeit. „Mich hat immer interessiert, inwieweit der Mensch durch historische Bedingungen formbar ist“, sagt er. Mit einer Art Horrorszenario ist beispielsweise die Frage verbunden, wie unser Leben nun aussehe, wenn das Dritte Reich nicht gescheitert wäre. „Wären wir dann heute alle Nazis?“, überlegt der Historiker. Oder beim Blick auf die Fernsehausschnitte, die der westlichen Welt von Nordkorea und Auftritten Kim Jong-uns übermittelt werden: „Wenn die Menschen dort vor Begeisterung in Ohnmacht fallen, ist das Fake oder echt?“ Angesichts von jahrzehntelanger Forschung gibt der 68-Jährige zu: „Was das Gute im Menschen angeht, bin ich äußerst skeptisch.“ Diese Skepsis ist Ergebnis, aber auch Teil des Berufs.

Zu seiner eigenen Geschichte vielleicht so viel: Gerhard Fritz ist in Backnang geboren, in Murrhardt aufgewachsen und beschloss nach seinem Abitur am Max-Born-Gymnasium in Backnang und seiner Bundeswehrzeit, Geschichte und Germanistik in Stuttgart zu studieren. Als Lehrer kehrte er sozusagen an seine Schule zurück, unterrichtete am Max-Born-Gymnasium, aber auch am Gymnasium in der Taus. Gleichsam blieb er der Universität treu – lehrte auch dort, promovierte und habilitierte. 2002 trat er seine Professur für Geschichte und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule (PH) Schwäbisch Gmünd an, um wiederum künftige Pädagogen auszubilden. Die stattliche Anzahl von 22 Jahren Schulpraxis ist nicht typisch, er ist seines Wissens nach der Professor an der PH, der am längsten als Lehrer gewirkt hat. Mittlerweile kommen fast 20 Jahre Lehrerfahrung in Gmünd hinzu.

Gerhard Fritz forscht weiterhin und betreut noch eine Lehrveranstaltung sowie einige Abschlussarbeiten, hat sich aber ein Stück weit in Richtung Ruhestand zurückgezogen. Wie blickt er auf sein jahrzehntelanges Ausbildungsschaffen? Kritisch-engagiert, wie es einem analytisch trainierten Menschen entspricht. „Als Professor sind Sie mit Studenten einer unglaublichen Bandbreite konfrontiert. Das macht es nicht immer ganz leicht.“ In Langzeitstudien hat sich Professor Fritz mit den Voraussetzungen und dem Wissenstand von Studenten beschäftigt. Dabei stellt er unter anderem fest, dass rund ein Viertel sprachliche Defizite aufweist. Das heißt, dass es der Schule nicht immer gelingt, den jungen Menschen diese Grundfertigkeiten zu vermitteln. Das führt nach seinen Beobachtungen dazu, dass sich nicht wenige Studenten umorientieren oder abbrechen. „Die andere Möglichkeit ist, ein Vorbereitungssemester, in dem Abiturwissen nachgebüffelt wird, aber das ist zutiefst undemokratisch“, sagt Fritz.

Auch Formen wie das Stauferstudienmodell, bei dem eine begleitende Wissensvermittlung im Studium angeboten wird, hält er für die falsche Lösung, weil sie das Problem an die Universität delegiert. Als ehemaliger Lehrer nimmt er die Schulen in die Pflicht, sagt aber auch: „Mit eine Ursache ist sicher die Aufhebung der verbindlichen Schulempfehlung.“ Dass so viele Jugendliche aufs Gymnasium gehen, spiegelt für ihn auch die Tatsache wider, dass ein Kopfberuf gesellschaftlich höher eingestuft wird. Das sollte überdacht werden. Nicht nur, weil einem bekanntermaßen die Handwerker ausgehen, sondern auch, weil ein junger Mensch in solch einem Beruf vielleicht ganz andere Fähigkeiten entwickeln könnte.

Gerhard Fritz spricht aber genauso gern von Studenten, die hervorragende Arbeiten abliefern. Einige von ihnen haben jüngst unter seiner Regie ihre Studien in einem Sammelband des Instituts (Historegio, Band 11) herausgegeben. „Es war eine Freude, mit ihnen zu arbeiten.“ Das Ergebnis waren „Arbeiten, die ich nicht hätte besser schreiben können“. Zu einer gelungenen wissenschaftlichen Arbeit gehört für den Historiker, den Ausschnitt an Fakten und Begebenheiten, der einem vorliegt, zunächst wertfrei und vor allem im damaligen Kontext zu betrachten. Insbesondere sind die gesellschaftlichen Bedingungen für eine spätere Bewertung wichtig.

Briefe oder Tagebücher eines Menschen ohne politische Macht geben spannende Einblicke.

Ein Beispiel: Wer sich mit Kriminalitätsgeschichte beschäftigt, stellt möglicherweise fest, dass die Zahl von Sexualdelikten im 16./17. Jahrhundert zugenommen hat (quantitatives Vorgehen). Da sich aber auch die Normen verändern, gilt es zu fragen, was wird in dieser Zeit als Delikt definiert und somit eventuell ins Licht gerückt? Möglicherweise gab es die Phänomene auch zuvor, aber sie wurden von der Gesellschaft anders bewertet. „Qualitative Forschung wird umso schwieriger, je weiter die Zeit zurückreicht.“ Die Lücken in Bezug auf Originaldokumente werden dann immer größer, erklärt Fritz mit Blick auf die Methodik, die stärker an den Inhalten ausgerichtet ist. Ein Quellentypus hat sich für ihn als besonders spannend erwiesen – die sogenannten Egodokumente, also Aufzeichnungen in Form von Tagebüchern oder Memoiren. Neben anderen Zeugnissen wie Verhörprotokollen im Kontext der historischen Kriminalitätsforschung „interessiert das die jungen Leute auch sehr“. So manche Enkel stoßen in Nachlässen auf Aufzeichnungen der Großelterngeneration, die beispielsweise in Feldpostbriefen ihre Situation im Nationalsozialismus schildern. „Diese Perspektive aus Sicht der Betroffenen, eines politischen Nobodys ist spannend“, sagt der 68-Jährige. „Es stellt sich ja auch die Frage, wie kommt die politische Herrschaft unten bei den Leuten an, und es zeigt sich, sie kommt oft nicht gut an.“

Auch für diese Forschungsperspektive, die unter dem Schlagwort „Geschichte von unten“ in den 1980er-Jahren bekannter wurde, ist das Hintergrundwissen und der historische Kontext zentral. Fritz hat beispielsweise eine Doktorarbeit betreut, bei der ukrainische Feldpostbriefe im Zentrum stehen. Dabei ist es wichtig, zu wissen, dass diese in der Sowjetunion einer viel stärkeren Kontrolle unterzogen wurden. „Wenn klar ist, dass mein Brief gelesen wird, schreibe ich auch ganz anders.“ Egodokumente sind wertvolle Quellen ab dem 15./16. Jahrhundert, ab dem 18. Jahrhundert werden sie zum Massenphänomen und spiegeln vor dem Hintergrund des Pietismus auch ein Stück weit die eigene Gewissenserforschung, erklärt Gerhard Fritz. Immer noch ist er fasziniert, wenn sich die Schicksale im Zuge von Forschungsarbeit mit Farbe füllen. Als Ergebnis seiner langen Forschungszeit stellt er allerdings auch fest: „Alle Menschen sind Egoisten, reine Altruisten findet man nie.“ Letztlich seien für die Menschen schlichtweg auch lebensnotwendige Dinge eine treibende Kraft gewesen wie ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen zu haben oder einen Partner zu finden.

Nicht vermissen wird er die Verwaltungsarbeit, die in seinem Alltag als Professor einen nicht unerheblichen Teil – rund 30 bis 40 Prozent – eingenommen hat. Nicht ganz unbeteiligt dabei ist die jüngste Universitätsreform. Professor Fritz erinnert sich daran, wie die Modularisierung des Studiums – mit den Abschlüssen Bachelor und Master – eingeführt wurde. Das Modell des Autobauens sei auf die Studienfächer und Universitäten übertragen worden. Eines der Ergebnisse: Die Professoren müssen die Noten, die mit den verschiedenen Modulen als Leistungsnachweise verbunden sind, verwalten, erzählt Gerhard Fritz. „Jeder Student hat nun eine Akte, das hatte eigentlich keiner vorhergesehen.“

Und wie haben sich die Studentengenerationen über die Zeit verändert? Das Auffälligste für Fritz: „Die Neigung zu Buch und Papier wird immer geringer.“ Ab und zu hat er Fachliteratur, die er an Studenten verschenken kann. Der Kommentar, dass jemand aber für ein Buch keinen Platz im Regal verlieren möchte, fand er dann doch „sehr gewöhnungsbedürftig“. Für Pauschalurteile ist er aber nicht zu haben und erinnert sich beispielsweise genauso an ein absolut spannendes Forschungsseminar, bei dem er mit Studentinnen das 100-jährige Bestehen des Freilichttheaters Heidenheim vor allem anhand der Bühnenstücke aufgearbeitet hat.

Mit Corona hat sich auch der Studienbetrieb verändert. Prüfungen fanden und finden auf Zoom statt, Tagungen mussten abgesagt werden genauso wie die geplante Abschiedsvorlesung von Gerhard Fritz. „Ich hoffe, dass sich das nachholen lässt.“ Mit einem Bein im Ruhestand hätte er auch gerne die eine oder andere Reise – beispielsweise nach Frankreich oder Ungarn – angetreten. Aber auch seine fünf Enkel fordern ihre Zeit ein und der 68-Jährige hat sich weiterhin der Wissenschaft verschrieben. „Professoren haben keinen Ruhestand, sie forschen ständig weiter.“