Verteidigung im Südwesten

Wie ein Marineoffizier das Land kriegstüchtig machen will

Kapitän Michael Giss hat einen Auftrag: Baden-Württemberg auf die Kriegsgefahr vorzubereiten. Doch sein Drängen gegenüber Politik und Verwaltung gefällt längst nicht jedem.

Wie ein Marineoffizier das Land kriegstüchtig machen will

Kapitän zur See Michael Giss: „Jetzt ist die zivile Seite am Zug.“

Von Michael Weißenborn und Annika Grah

Seit er im September 2024 seinen Posten als Landeskommandeur angetreten hat, sorgt Kapitän zur See Michael Giss immer wieder für Aufsehen. Mit Sätzen wie „Russland bedroht uns schon akut“, zu Jahresanfang im Interview mit unserer Zeitung. Oder dass er sich sicher sei, dass manche Rakete in Kaliningrad Stuttgart in ihrem Zielcomputer habe, vor einigen Wochen im Landtag. Solche Sätze sorgen für Unruhe, provozieren und gefallen längst nicht allen. Manch einer wirft Giss vor, unnötigerweise Kriegsängste zu schüren.

In der Landespolitik sorgte Giss’ forscher Auftritt bisweilen für hochgezogene Augenbrauen. Etwa als er beim Empfang der Landesregierung kurz nach seinem Antritt für die Bundeswehr im Herbst monierte, noch keine Gelegenheit zum Gespräch mit Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann (Grüne) bekommen zu haben. Der Ministerpräsident reagierte irritiert auf den impliziten Vorwurf, die Bundeswehr nicht ernst genug zu nehmen. Auch an anderer Stelle im politischen Raum fallen Giss’ drängende Äußerungen gegen die Politik auf. Im zuständigen Innenministerium indessen betont man die gute Gesprächsebene. Auch bei Organisationen des Zivilschutzes kommt man gut mit ihm klar. Provoziert Giss also bewusst, um anscheinend bundeswehrferne Politiker aufzurütteln?

Kein Heißsporn

Wenn man dem Offizier in seinem Dienstzimmer in der Cannstatter Theodor-Heuss-Kaserne gegenübersitzt, gewinnt man nicht den Eindruck, dass es sich bei dem 61-Jährigen um einen Heißsporn oder gar Aufrührer handelt. Im Gegenteil: Der oberste Ansprechpartner der Landesregierung für die zivil-militärische Zusammenarbeit im Katastrophen- wie im Verteidigungsfall, ein gebürtiger Freiburger, setzt seine Worte besonnen und mit beinahe hanseatischer Zurückhaltung. „Als Marineoffizier muss ich immer für einen klaren Zustand sorgen“, meint Giss lapidar. Er stieß 1983 gleich nach dem Abitur als Wehrpflichtiger zur kleinsten Teilstreitkraft der Bundeswehr.

Seine Analyse ist glasklar: Unterhalb der Schwelle eines Krieges „befinden wir uns seit Jahren schon in einer hybriden Angriffsphase Russlands“, bekräftigt Giss mit Blick auf Sabotage, Spionage und Anschläge. Und seine Schlussfolgerungen sind wie die seiner militärischen wie politischen Führung ebenso klar: Das ganze Land und seine kritische Infrastruktur müssten militärisch und zivil viel widerstandsfähiger werden. Die Zeit dafür drängt: Russland droht damit, sein Reich über Gebiete in der Ukraine hinaus auszudehnen, ins Baltikum etwa. Das könnte schon 2029 so weit sein, warnt die Bundeswehr. Deshalb tourt Giss durchs Land, informiert und sensibilisiert. Aber, meint er jetzt: „Das Lied ist ausgesungen.“ Man müsse nun zügig an die Umsetzung der Gesamtverteidigung gehen.

Giss ging in der Schlussphase des Kalten Krieges zur Bundeswehr, als einer von ganz wenigen und noch ohne konkretes Berufsziel, berichtet er. Es waren die Zeiten von Nato-Doppelbeschluss und Friedensbewegung. Die Bundeswehr habe ihn vom ersten Tag der Grundausbildung an überzeugt: „harte, aber herzliche Vorgesetzte“ und „Kameradschaft auf der Zehn-Mann-Stube und an Bord noch mehr“. Ein Schlüsselerlebnis: Der Kommandant eines Minenjagdboots besprach sich mit ihm als Wehrpflichtigem, der zur Navigation eingeteilt war, auf Augenhöhe über den richtigen Kurs des Schiffes.

Eindrucksvolle Laufbahn

„Das war ein Typ wie Jürgen Prochnow in ,Das Boot‘“, erzählt Giss mit leuchtenden Augen: „kompetent und menschlich“. Da wusste er: „So wie der möchte ich auch mal werden.“ Giss wurde Berufssoldat, der auf eine eindrucksvolle 42-jährige Offizierslaufbahn zurückblickt: Teilnahme an der französischen Generalstabsausbildung in Paris, zwei mal Kommandant eines Schiffes, darunter von 2006 bis 2008 auf der Fregatte „Emden“, auch am Horn von Afrika im Einsatz gegen Terror und Piraten. Dazu militärpolitische Verwendungen im Nato-Hauptquartier in Brüssel und beim Staatssekretär in Berlin. Am eindrücklichsten vielleicht: der Einsatz 2015 als Militärberater im Generalstab der afghanischen Armee.

Und nun geht es beim Stuttgarter Landeskommando um die Umsetzung der Mammutaufgabe „Operationsplan Deutschland“ (Oplan), mit dem Militär und zivile Organisationen seit dem russischen Überfall auf die Ukraine die Verteidigung Deutschlands und der Nato-Partner vorbereiten. Anders als im Kalten Krieg ist Deutschland nicht mehr Frontstaat, sondern Drehscheibe für den Transport von Nato-Truppen Richtung Osten.

Und wie gut rüstet sich Baden-Württemberg für den Ernstfall? „Das Land beginnt damit, sich ressortübergreifend vorzubereiten“, sagt Kapitän Giss. Aber reicht das Tempo? Es gebe diverse runde Tische zur Verteidigung. Sein Landeskommando stimme sich außer mit dem Innenministerium zuletzt auch mit dem Sozial- und Verkehrsressort enger ab. Giss macht aber klar: „Die zivile Seite ist jetzt am Zug."

Zuletzt wurde Kritik an der Umsetzung der Gesamtverteidigung laut. Da der „Oplan“ geheim sei, wisse die zivile Seite, Verwaltung und Unternehmen, gar nicht, was von ihr erwartet werde. Wie werden die aufmarschierenden Truppen mit Nahrung und Sprit versorgt? Wie bekommen Supermärkte im Krisenfall weiterhin Waren? Was ändert sich in Krankenhäusern? Im Kalten Krieg wusste die zivile Seite, wo man sie gebraucht hätte. Soldaten übten gemeinsam mit Kommunalbeamten. Ex-THW-Chef Albrecht Broemme fordert daher vom Militär, die Geheimniskrämerei so weit wie möglich aufzugeben. Innenminister Thomas Strobl (CDU) hat in Baden-Württemberg zumindest Gespräche mit Kommunen und Kreisen darüber initiiert, worauf sich die zivile Seite vorzubereiten hat. Doch viel ist bisher nicht passiert.

Wer zieht die Stiefel an?

Darüber hinaus: Sieht Giss die Deutschen insgesamt dazu bereit, kriegstüchtig oder verteidigungsfähig zu werden, wie Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) gefordert hat? Er nehme wahr, dass die Deutschen laut Umfragen bereit sind, mehr Geld für Panzer, Helme und Stiefel auszugeben. Soldaten berichten auch von mehr Wertschätzung in der Öffentlichkeit. Aber: „Viele stecken lieber weiter den Kopf in den Sand“, so der Soldat. Wer fährt die Panzer und zieht die Stiefel an? Die Bundeswehr braucht bald Zehntausende Soldaten mehr. Die Debatte um die Wiedereinführung der Wehrpflicht ist für den Offizier ein Testfall. Darüber müsse jetzt geredet werden, meint er mit Blick auf die Bundestagsabgeordneten in Berlin. „Es ist höchste Zeit.“ Außerdem: „Die Wehrpflicht wäre auch ein Signal nach außen an den Gegner, dass wir bereit sind, unsere Freiheit zu verteidigen.“