Stefanie Tapal-Mouzon studiert in Stuttgart, heiratet dort einen Berber und wandert nach Marokko aus. In einem stillen Gebirgstal gründet sie eine Familie und ein Bildungszentrum.
Stefanie Tapal-Mouzon und Haddou Mouzon mit ihrem jüngsten Kind, Tochter SafiyaStefanie Tapal-Mouzon und Haddou Mouzon mit ihrem jüngsten Kind, Tochter Safiya
Von René Jo. Laglstorfer
Bärbel Tapal sagt es frei heraus: „Als wir unsere Tochter das erste Mal in Marokko besucht haben, war das ein Schock für uns“, erzählt sie. „Kein Strom und kein fließendes Wasser. Unsere Steffi musste die Wäsche mit der Hand im Bach waschen.“
23 Jahre ist es her, dass ihre in Konstanz am Bodensee geborene Tochter Stefanie das erste Mal nach Marokko reiste. Damals studierte sie an der Fachhochschule Stuttgart Innenarchitektur. Zehn Tage dauerte die Exkursion, bei der die damals 24-Jährige nicht nur den Lehmbau Südmarokkos kennenlernte, sondern sich auch auf Anhieb in das Land und seine Leute verliebte.
Praktikum in Marrakesch
„Nach der Exkursion wollte ich unbedingt eine Zeit lang in Marokko leben“, erzählt Stefanie Tapal-Mouzon. Nach ihrem ersten Aufenthalt in Marokko entschied sie sich, das sechsmonatige Pflichtpraktikum während ihres Studiums beim Denkmalamt in Marrakesch zu absolvieren. Mit dem Reiseleiter ihrer Studentengruppe, Haddou Mouzon, blieb sie über Briefe und Postkarten in Kontakt.
Ende 2002 nahm er sie mit in sein Heimatdorf, das rund sechs Autostunden von Marrakesch im Hochtal Aït Bougoumez – übersetzt das „Tal der Glücklichen“ – liegt. „Ich hatte keine Ahnung, wohin Haddou, mit dem ich damals befreundet war, mich bringt“, erinnert sich die heute 47-Jährige. Zunächst sei sie nur aus Höflichkeit mitgefahren, weil ihr Haddou Mouzon angeboten hatte, seine Heimat kennenzulernen. „Ehrlich gesagt, hatte ich gar nicht richtig Lust. Wir sind nachts angekommen. Ich musste neben den Kühen meine Notdurft verrichten. Da stand ich und dachte: Soll ich jetzt heulen, schreien oder einfach die Zähne zusammenbeißen?“
Sie verliebt sich in den zwei Jahre älteren Haddou
Am nächsten Morgen machte sie das Fenster auf und sah erstmals das Hochtal, das sich wie eine grüne Zunge durch die schroffen Berge zieht, die selbst im Sommer manchmal noch mit einer leuchtend-weißen Schneekuppe bedeckt sind: „Bei diesem Anblick machte es zack bei mir, und ich wusste: Hier will ich bleiben.“
Während ihres Praktikums in Marrakesch lernte sie den zwei Jahre älteren Haddou näher kennen, bis sich die beiden schließlich ineinander verliebten. Und sie kam durch die Zusammenarbeit mit ihren muslimischen Kollegen erstmals in Kontakt mit dem Islam. Während des Ramadans fastete sie mit, weil sie mit der Absicht nach Marokko gekommen war, wie die Einheimischen zu leben. „In der Zeit habe ich mit meinen Kollegen mehr diskutiert als gearbeitet“, sagt Tapal-Mouzon.
Sie habe viele Fragen mit in die Arbeit gebracht, zum Beispiel über die Stellung der Frau. „Jedes Mal habe ich eine Erklärung bekommen, ohne gedrängt oder missioniert zu werden.“ Fast beschämt erzählt die 47-Jährige, was für ein mulmiges Gefühl sie hatte, als sie zum ersten Mal den Koran in deutscher Übersetzung in ihren Händen hielt. Schließlich war Tapal-Mouzon gläubige, praktizierende Protestantin und wollte ursprünglich sogar Theologie studieren. „Der Koran hat in mir drinnen etwas ausgelöst. Das war so ein innerer Drang, so eine Führung – ich konnte nichts dagegen tun“, sagt sie. Das Ergebnis dieser inneren Zuwendung war ihre Konversion zum Islam.
„Ich möchte, dass die Leute sehen, dass ich Muslima bin“
Zu Beginn trug sie noch kein Kopftuch. Im ländlich geprägten Hochtal bedeckte sie mit einem Schal ihre Haare – um niemanden zu verletzen, wie sie sagt. „Irgendwann habe ich gemerkt: Ich möchte, dass die Leute sehen, dass ich Muslima bin. Mittlerweile würde ich mich ohne Kopftuch nackig fühlen.“
Tapal-Mouzons Umfeld reagierte heftig auf den Glaubenswechsel. „Die ganze Familie war fassungslos“, erzählt Stefanies Mutter Bärbel Tapal. Ihre Tochter sagt: „Das war die Hölle. Aber ich konnte nichts dagegen tun. Ich habe es ja nicht böse gemeint.“ Innerhalb von sechs Monaten hatte sich ihr Leben völlig verändert. Sie wollte langfristig in Marokko leben und Haddou heiraten. Ihre Eltern hatten Angst, dass eine Beziehung zu einem Mann, der über keinen richtigen Schulabschluss verfügt, nicht gut gehen könne, in einem Land, in dem man als Frau nicht voll akzeptiert würde. „Die Stellung der Frauen im Islam machte uns Sorgen“, sagt Bärbel Tapal. „Aber Steffi war schon immer ein sehr eigenwilliger und selbstbewusster Mensch. Dass sie sich nicht unterdrücken lassen würde, war für uns klar. Bei Haddou spürten wir, dass er das auch nicht vorhatte.“
Hochzeit feierten Stefanie und Haddou in Stuttgart, wo später auch das erste von fünf Kindern zur Welt kam. Bis zum Studienabschluss von Tapal-Mouzon lebte die kleine Familie ein Jahr in Deutschland. Haddou Mouzon arbeitete während dieser Zeit in einem Café, in einer Fabrik, für eine Umzugsfirma, in einem Restaurant und in einer Rosenzucht. „Für mich war es nie ein Traum, in Europa zu leben. Ich fühlte mich nicht wohl in Deutschland und meine Heimat fehlte mir sehr“, sagt der 49-Jährige. Viele Marokkaner würden von einem besseren Leben träumen. „Aber es gibt genügend Möglichkeiten in Marokko.“
Das abgelegene Aït Bougoumez-Tal an der Nordseite des Hohen Atlas
Im Sommer 2004 zog die junge Familie los, um ihr Glück in Nordafrika zu finden. Da Haddou Mouzon von Beruf Reiseführer ist, versuchten sie, in Marokkos drittgrößter Stadt Fès ihren Lebensunterhalt im Tourismus zu verdienen. „Doch für uns war Fès wie Deutschland: zu viele Leute und zu viel Stress“, sagt er. Nach sechs Monaten übersiedelten sie in seine Heimat, das abgelegene Aït Bougoumez-Tal an der Nordseite des Hohen Atlas. In den ersten Jahren im Tal hatte das deutsch-berberische Paar eine kleine Reiseagentur und zeigte europäischen Touristen die Berge. Je älter ihre Kinder wurden, desto mehr Gedanken machte sich ihre Mutter über deren Schulausbildung.
In marokkanischen Grundschulen kommen rund 40 Schüler auf einen Lehrer, und oft gibt es nicht einmal genügend Tische. Viel folgenreicher ist, dass der staatliche Lehrplan vorschreibt, die rein Berberisch sprechenden Kinder des Tals ab der ersten Klasse auf Arabisch und Französisch zu unterrichten. „Das wäre, wie wenn deutsche Schüler in die Schule kommen würden und der Unterricht auf Chinesisch und Russisch stattfinden würde – zwei Fremdsprachen mit zwei verschiedenen Alphabeten und Schreibrichtungen“, erklärt Tapal-Mouzon.
Gründung einer eigenen Schule
Viele Kinder gehen bei diesem System unter, weil sie nicht mitkommen und der Lehrer oft gar nicht die Berbersprache Tamazight beherrscht. Die Folge ist, dass viele Marokkaner auf dem Land, wo überwiegend Berber leben, nicht lesen und schreiben können. Also überlegte Tapal-Mouzon, ihre Kinder zu Hause zu unterrichten.
Bis sie 2007 das Schweizer Paar Veronika und Jürg Mäder kennenlernte, das mit einigen Schülern ihrer selbst gegründeten Scuola Vivante in Buchs an der Grenze zu Liechtenstein auf Bildungsreise im Tal war. „So eine Schule wie eure würde ich mir für meine Kinder wünschen“, sagte Tapel-Mouzon bei dieser Begegnung. Die beiden Schweizer antworteten: „Warum gründet ihr nicht eine eigene Schule? Wir helfen euch.“
Drei Jahre später erhielt das Schulprojekt École Vivante mit Unterstützung aus der Schweiz, Deutschland und Frankreich die Genehmigung des marokkanischen Staates. Der Schulbetrieb startete mit einer Handvoll Schüler in den Wohnräumen von Stefanie und Haddou. Am Anfang hatten die beiden auch Schüler aufgenommen, die zuvor die öffentliche Schule besuchten. „Diese Kinder sind zum Beispiel aus Angst vor einem Hieb zusammengezuckt, wenn wir sie freundschaftlich begleiten wollten“, sagt Tapal-Mouzon. Sie habe unter den Schülern einen enormen Hunger nach einer wertschätzenden Betreuung erlebt. Die unter anderem von Waldorf und Montessori inspirierte Vivante Pädagogik wurde angepasst an die berberische Kultur und islamische Religion im Tal.
Alles Arabische und Französische wird immer auch in die Muttersprache der Kinder, Tamazight, übersetzt. Da es in dem Tal wegen eines Gendefekts einige gehörlose Kinder gibt, darunter sind auch zwei Kinder von Stefanies und Haddou, erlernen alle Schülerinnen und Schüler die Gebärdensprache. „Wir sehen, wie kompetent und selbstsicher die Kinder sind, wenn sie vor einer Gruppe Menschen sprechen“, sagt Tapal-Mouzon.
Rund 90 Prozent der Mütter und etwa 40 Prozent der Väter im Tal können nicht lesen oder schreiben. „Die meisten Kinder wünschen sich einen Beruf, bei dem sie sich nicht wie ihre Eltern in der Landwirtschaft jeden Tag den Buckel krumm rackern und trotzdem um das Überleben kämpfen. Viele träumen von den Städten oder von Europa“, sagt die 47-Jährige. Der Wunsch wegzugehen, werde auch durch Fernsehen und Internet genährt. Deshalb liegt der Schulgründerin viel daran, durch Bildung Zukunftschancen im Tal zu schaffen, damit sich ihre Schüler später in der Heimat selbstständig machen und Arbeit schaffen, zum Beispiel im Bereich erneuerbare Energien, in der Entsorgung oder im Handwerk.
Die erste Schülergeneration ist bereits ausgeflogen in die Welt
Die erste Generation tauber Schüler schaffte mithilfe der Gebärdensprache und unter Begleitung ihrer Lehrer den Mittelschulabschluss. Zwei von ihnen, Assia und Hamza, möchten nun auf die Sekundarschule für Gehörlose in der mehr als sechs Autostunden entfernten Hauptstadt Rabat gehen.
Die großen Unterschiede zwischen verschiedenen Lebenswelten kennt Tapal-Mouzon nur zu gut. Seit rund 20 Jahren wohnt die Baden-Württembergerin nun schon im Hohen Atlasgebirge. „Ich profitiere bis heute von den Erfahrungen und Prägungen, die ich in meiner Kindheit in der Bodenseeregion mitbekommen habe“, sagt sie. Vieles davon fließe in die Lehrmethoden am Campus Vivante ein. Dieser sei inzwischen eine anerkannte Modellschule für ganz Marokko geworden.
Ihr Ziel sei es stets gewesen, die Lebenschancen der Kinder und Menschen im Tal zu erhöhen. Die erste Generation an Schülerinnen und Schülern sei bereits ausgeflogen in die Welt. „Manche von ihnen kommen nun als Erwachsene wieder zurück in das abgelegene Hochtal“, sagt die Schulgründerin. Stefanie Tapal-Mouzon ist davon überzeugt, dass ihr Traum, ihre Arbeit irgendwann in die Hände dieser ehemaligen Schüler übergeben zu können, näher rückt.