Wie hoch ist das Infektionsrisiko in bestimmten Innenräumen?

Von Von Walter Willems, dpa

dpa Berlin/Mainz/Göttingen. Beim Friseur, beim Einkaufen, im Kino: Eine Studie vergleicht das Infektionsrisiko für verschiedene Innenräume, mit klaren Aussagen. Andere Experten teilen nicht alle von ihnen.

Wie hoch ist das Infektionsrisiko in bestimmten Innenräumen?

Das Risiko für eine Ansteckung mit dem Coronavirus ist laut einer neuen Untersuchung beim Friseur vergleichsweise gering. Foto: Nicolas Maeterlinck/BELGA/dpa

Das Paper ist sehr kurz - und überaus aktuell: Forscher der Technischen Universität Berlin haben Berechnungen zum Ansteckungsrisiko für verschiedene Innenraum-Szenarien veröffentlicht: vom Friseur über den Supermarkt bis hin zu Kino und Fitnessstudio.

„Es geht darum, dass wir jetzt in die Lockerungsphasen kommen“, sagt Studienleiter Martin Kriegel. In den Kalkulationen, die nicht von unabhängigen Experten begutachtet wurden und nicht in einer Fachzeitschrift veröffentlicht sind, fokussieren sich Kriegel und seine TU-Kollegin Anne Hartmann auf gängige Orte wie etwa Theater, Restaurants und Schulen. Berücksichtigte Einflussfaktoren sind vor allem die Dauer des jeweiligen Aufenthalts (im Supermarkt mit einer Stunde veranschlagt), der Aktivitätsgrad (im Fitnessstudio hoch) und die Luftzufuhr im Raum. Die Einhaltung der Hygiene- und Lüftungsregeln wird vorausgesetzt, die Schutzwirkung einer Maske mit 50 Prozent einbezogen. Weitere Bedingung: Eine infizierte Person ist zusammen mit anderen im Raum.

Unter den gesetzten Voraussetzungen ist das Risiko beim Friseur, in wenig ausgelasteten Museen, Theatern und Kinos, aber auch in Supermärkten demnach vergleichsweise gering. Deutlich höher sei es in Fitnessstudios und vor allem in Oberschulen und Mehrpersonenbüros. Beispiele: Beim Einkaufen im Supermarkt würde sich demnach - unter den festgelegten speziellen Voraussetzungen - maximal eine weitere Person anstecken. In einem zur Hälfte besetzten Mehrpersonenbüro, in dem sich Menschen acht Stunden ohne Maske aufhalten, läge der Wert unter den für die Studie angenommenen Bedingungen acht Mal höher. In einem Theater mit 30 Prozent Auslastung und Maskenpflicht wäre das Risiko nur halb so hoch wie im Supermarkt - trotz doppelter angenommener Aufenthaltsdauer von zwei Stunden.

„Es ist von großem Interesse, typische Situationen miteinander zu vergleichen, um einen generellen Eindruck zu bekommen“, sagt Kriegel. Er räumt gleichzeitig ein: „Es ist ein einfaches Abschätzungsmodell, das allerdings auf einem detaillierten Infektionsrisikomodell basiert, das an realen Ausbrüchen validiert wurde.“ Grundlegende medizinische Fragen seien dennoch unklar, etwa wie viele Viren in Aerosolpartikeln und welche Viruskonzentration für eine Infektion notwendig seien. „Man bräuchte eine stärkere interdisziplinäre Zusammenarbeit, um ein umfassendes, ganzheitliches Modell zu erhalten.“

Die echte Welt ist eben komplexer. Der frühere Präsident der Internationalen Gesellschaft für Aerosole in der Medizin, Gerhard Scheuch, mahnt zu Vorsicht bei der Interpretation der Resultate: Von der Vielzahl der Einflussfaktoren sei bisher nur ein Teil bekannt, die Studie setze viele Annahmen voraus. „Solche Berechnungen sind unheimlich komplex.“ Die Resultate, die das Risiko sehr exakt angeben, erweckten den Eindruck einer Präzision, die es so nicht gebe.

Der Chemiker Jos Lelieveld hebt die vergleichende Gegenüberstellung der Szenarien hervor. „Die Botschaft ist eigentlich simpel“, erläutert der Direktor am Mainzer Max-Planck-Institut für Chemie. „Wenn eine Gruppe von Personen sich mit einem infizierten Menschen längere Zeit in einem geschlossenen Raum aufhält, ist das Ansteckungsrisiko sehr hoch. Über mehrere Stunden reichern sich die virenbeladenen Aerosole an, wobei die infektiöse Dosis erreicht werden kann.“

Dies gelte etwa für Oberschulen, für die sich das Risiko angesichts vergleichbarer Klassen- und Raumgrößen gut abbilden lasse. Auch das Risiko in Büroräumen sei eindeutig. „Diese Aussagen sind richtig und wichtig“, betont Lelieveld. „Die Öffentlichkeit sollte verstehen, dass sie mit dem Öffnen der Schulen ein hohes Risiko eingeht.“ Auch der Homeoffice-Anteil im Beruf sei noch sehr ausbaufähig.

Andere Aussagen der Studie sieht Lelieveld kritisch - etwa zum Risiko in Schwimmhallen, das nach Kriegels Studie beträchtlich ist. Eine Anfrage von einem Schwimmbadverband, das Infektionsrisiko zu berechnen, lehnte Lelieveld ab. „Dafür müsste man für die großen Hallen die Aerosolströmungen gut simulieren“, sagt er. „Das können wir nicht.“ Auch für Restaurants und Fitnessstudios seien genaue Angaben schwierig: „Diese Aussagen würde ich so nicht unterstützen.“

Der Physiker Eberhard Bodenschatz vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen betont, dass man relativ gut die Wahrscheinlichkeiten für Infektionen unter gegebenen Bedingungen abschätzen könne. Wichtig sei jedoch, alle Eventualitäten zu betrachten.

Ein Beispiel: Falls sich in einem Restaurant Menschen verabreden, die ohnehin Kontakt zueinander hätten, könnte es sein, dass die ganze Gruppe ansteckend sei, ohne es zu wissen. Dann sei die Wahrscheinlichkeit viel höher, dass sich andere Personen über infektiöse Aerosole anstecken als etwa beim Friseur, den Kunden meist unabhängig voneinander besuchten.

Unabhängig vom jeweiligen Ort hänge das Risiko enorm von einem Faktor ab: der Verbreitung des Virus in der Bevölkerung. „Wenn die Prävalenz sinkt, sinkt auch die Wahrscheinlichkeit, dass überhaupt eine infizierte Person in einem Raum ist.“ Deshalb begrüßt Bodenschatz den jüngsten Beschluss der Bund-Länder-Konferenz, Lockerungen der Corona-Maßnahmen erst ab der Zahl von 35 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern binnen sieben Tagen zu erwägen. „Eigentlich sollte man die Inzidenz so weit runter drücken, wie es irgendwie geht.“

Die Experten betonen, dass politische Entscheidungen auch von vielen anderen Faktoren abhängig seien. Studienautor Kriegel möchte seine Kalkulationen nicht als Vorgabe an die Politik bezüglich möglicher Lockerungen verstanden wissen. „Ich möchte keine Empfehlungen abgeben“, betont er. „Wir liefern Informationen. In die Entscheidungsprozesse werden wir nicht eingebunden.“

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